Lerne Nein sagen

Der Unterschied zwischen erfolgreichen Leuten und wirklich erfolgreichen Leuten besteht darin, dass wirklich erfolgreiche Leute zu fast allem Nein sagen.
Warren Buffett

Die Fähigkeit Nein zu sagen gilt nicht nur als Bedingung für die Freiheit des Einzelnen, sondern nach den Worten des berühmten Investors auch als wichtige Voraussetzung für persönlichen Erfolg und für außergewöhnliche Leistungen. Doch ist dem tatsächlich so? Wozu sollte man Nein sagen können?

Soll der Soldat zu dem ihm erteilten Befehl Nein sagen? Er würde vermutlich auch das letzte Stückchen Freiheit, die ihm nach seinem Eintritt in die Armee noch verblieben ist, verlieren. Soll der Mitarbeiter Nein zur Erfüllung der Aufgabe sagen, die ihm von seiner Vorgesetzten übertragen worden ist? Das würde wohl kaum seinen beruflichen Erfolg, seine Karriere befördern. Soll man etwa Nein sagen, wenn Freunde oder Kollegen um Unterstützung bitten? Wenn sie der Hilfe tatsächlich bedürfen und mich nicht ausnutzen wollen, sicher nicht. Müssen wir Nein sagen, wenn wir etwas tun sollen, das nicht unsere Werten oder Überzeugungen entspricht? Selbstverständlich. Doch auch darum geht es in diesem Zusammenhang nicht. An wen und an welche Situationen also haben wohl Buffett und andere Fürsprecher des Nein-Sagens gedacht?

Es geht ihnen um an uns herangetragene Erwartungen, Wünsche oder Forderungen, deren Erfüllung jedoch nicht uns – etwa als Soldat oder Mitarbeiter – obliegen, sondern zuvörderst Aufgabe des Anfragenden, zum Beispiel eines Kollegen sind. Wir sagen zu oft vorschnell Ja zu vielen Dingen, die wir eigentlich gar nicht tun wollen. Anschließend bereuen wir dies und klagen über die in überflüssigen Sitzungen vergeudete Zeit, über einen vollen Terminkalender oder über eine endlose To-do-Liste. Doch sind dies nur die oberflächlich sichtbaren Kosten, die das unüberlegte Ja mit sich bringt.

Die Problematik nicht Nein sagen zu können

Der Blogger und Buchautor James Clear bringt den Unterschied zwischen Ja und Nein so auf den Punkt: „Nein ist eine Entscheidung. Ja ist eine Pflicht.“ („No is a decision. Yes is a responsibility.“) Zwar erfordert auch das Ja eine Entscheidung, Clear meint aber Folgendes: Wenn wir zu oft Ja sagen, wachsen uns die Verpflichtungen bzw. Aufgaben, die wir damit übernommen haben, über den Kopf. Dies tut uns auf Dauer nicht gut und kann in chronischer Erschöpfung enden. Wir leben dann unser Leben für andere.

Doch halt, was ist daran schlecht? Macht es nicht gerade glücklich, anderen von Nutzen zu sein? Vermittelt es nicht das gute Gefühl, gebraucht zu werden? Gewinnt unser Leben durch Freigebigkeit nicht erst seinen Sinn? Sicherlich, doch noch einmal: Dies gilt nur dann, wenn die Nutznießer unseres Ja‘s tatsächlich unsere Unterstützung benötigen. Das eigene Leben für andere zu opfern, die dieses Opfers nicht bedürfen, ist nicht nur sinnlos, es kostet uns auch unsere Freiheit. „So sehr darf man nicht Allen angehören, daß man nicht mehr sich selber angehörte.“ (Baltasar Gracian) Insofern lässt sich im Hinblick auf unberechtigte Ansprüche auf unsere begrenzte Lebenszeit und unsere Ressourcen sagen: Ja heißt Freiheit aufzugeben. Nein bedeutet Freiheit zu bewahren.

Der größte Vorteil des Nein-Sagen-Könnens besteht darin, das eigene Leben zu leben und nicht das Leben anderer. Die Energie, die Zeit und andere Ressourcen, die wir für unser Tun aufwenden, wie auch dessen Ergebnisse, kommen uns selbst zugute. Wir konzentrieren uns auf die Aufgaben, die das Leben uns selbst gestellt hat. Kurz: Wir haben mehr Zeit für das Wesentliche.

Gibt es Situationen, in denen das Nein wichtiger ist und andere, in denen ein Ja weniger schadet? Gewiss: Wenn es um Entscheidungen darüber geht, mit welchem Partner wir zusammenleben wollen, ob wir gemeinsam Kinder großziehen möchten, welcher Arbeit wir nachgehen und in welcher Stadt wir leben, ist unser Nein von besonderem Gewicht.

Warum fällt das Neinsagen schwer?

Einen Wunsch oder eine Bitte abzuschlagen fällt oft schwer, manch einer spürt eine innere Barriere dagegen. Man möchte nicht egoistisch oder unhöflich erscheinen und fürchtet sich, dass andere den Widerspruch übelnehmen, vielleicht sogar daraufhin die Beziehung abbrechen. Man fühlt sich unter Rechtfertigungsdruck. Das Nein erzeugt zunächst einmal eine gewisse Mißstimmung, die die Kommunikation belastet. Wieviel angenehmer ist es doch, solchen Situationen und Konflikten aus dem Weg zu gehen und als freundlich, nett und hilfsbereit angesehen zu werden.

Bevor man Nein zu einem Anderen sagen kann, muss man Nein zu seinem Bedürfnis nach Anerkennung sagen.

Doch nicht allen fällt das Neinsagen gleichermaßen schwer, die Anlage dazu ist verschieden ausgeprägt. Schon bei Kleinkindern lassen sich bezüglich ihres Widerspruchsgeistes Unterschiede ausmachen. Reaktionen der Erwachsenen verstärken die vorhandenen Anlagen. Das Kind, das die gestellten Forderungen eher bereitwillig erfüllt, gilt als artig, hilfsbereit und gut erzogen – es wird gelobt. Das Kind, das widerspricht, gilt schnell als störrisch, als Querulant, als verzogen – es wird getadelt.

Nun soll damit nicht einer Erziehung das Wort geredet werden, die auf die Durchsetzung jeglicher Regeln verzichtet. Doch das Lob für das artige Kind kann sich auf längere Sicht schädlich auswirken. Machen Kinder wiederholt die Erfahrung, dass sie nur wahrgenommen werden, wenn sie ohne eigene Motivation etwas für andere getan haben, hängt ihr Selbstbewusstsein bald daran. Sie versuchen dann auch in ihrem späteren Leben, allein dadurch Anerkennung zu erhalten.

Ich bin kein geborener Neinsager, und das Aufwachsen in der DDR hat daran wenig geändert. Wer damals Einspruch erhob oder Forderungen infrage stellte, bekam oft Schwierigkeiten. Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und gute Erfüllung meiner Pflichten als Angestellter sind mir wichtig. So kostet mich das Neinsagen auch heute noch meistens Überwindung. Außerdem bin ich ein Stück weit gutgläubig, und wenn mir nur jemand etwas mit gewisser Bestimmtheit erklärt, nahelegt oder souffliert, nehme ich es in der Regel erst einmal für bare Münze. Doch habe ich dafür inzwischen auch Lehrgeld gezahlt und an Lebenserfahrung gewonnen, um den Wert des Neinsagens erkennen zu können. Kann man es erlernen?

Neinsagen lernen

Man kann es üben, im beruflichen Umfeld, in familiären Beziehungen und im sonstigen Alltag und es ist nie zu spät damit anzufangen. Völlig ablegen wird man seine Anlagen aber wohl nicht.

Man höre auf seine innere Stimme und spüre den leisesten Zweifel. Fühlt es sich richtig an? Wird es mir gut tun? Ist die Antwort auf diese Fragen kein klares und sicheres Ja, heißt es Nein.

Man lasse sich nicht überrumpeln und unter Zeitdruck setzen. Man zögere vor jedem Ja und erbitte sich eventuell Bedenkzeit.

Man führe sich die Konsequenzen seiner Zusage vor Augen. Die Zeit, die mit einer eingegangenen Verpflichtung verbunden ist, fehlt für andere, vielleicht wichtigere Dinge. Die persönliche Lebenszeit aber ist das vielleicht wichtigste eigene Vermögen. Es ist einfacher, eine Verpflichtung erst gar nicht einzugehen, als sie später zu erfüllen oder sich von ihr zu lösen.

Es ist nicht unwichtig, wie man Nein sagt. Wenn man kategorisch widerspricht, oder schroff ablehnt, kann das Kommunikation und Beziehung unnötig belasten. Doch dazu muss es nicht kommen. Man versuche, sein Nein zu versüßen, schlage eine Bitte nicht sofort und vollständig ab. Oft reicht es schon, eine Grenze zu ziehen.

Dem Bedürfnis, sein Nein zu begründen, sollte man dagegen nicht zu oft und nicht zu ausführlich nachgeben. Der Gegenüber wittert die sich hinter der Rechtfertigung verbergende Unsicherheit. Man vermeidet, in endlose Diskussionen und Verhandlungen verwickelt zu werden. Nein heißt Nein.

Nicht auf die Absichten, auf das Tun kommt es an

Dass es nicht gute Vorsätze sind, die letztlich zählen, sondern unser Tun und dessen Ergebnisse, hat Goethe kurz und treffend auf den Punkt gebracht: „Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun.“ Eingedenk der Erfahrung, dass eine Absicht nicht zwangsläufig entsprechendes Handeln nach sich zieht, erklärt er das bloße Wollen mit einer gewissen Strenge für unzureichend und fordert energisch zur Umsetzung in die Tat auf. Das klingt einleuchtend, doch mit der Forderung allein ist es nicht getan. Warum fällt es uns so schwer, diese Maxime zu befolgen? Was können wir tun, um zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben?

Meistens streben wir an, dass es uns besser geht, dass wir bestimmte Normen einhalten oder dass wir schlechte Gewohnheiten aufgeben. So nehmen wir uns beispielsweise vor, mehr Sport zu treiben, uns gesünder zu ernähren oder achtsamer gegenüber unserem Ehepartner und unseren Kindern zu sein. Wir wollen mehr Bücher lesen, uns weniger in Social Media-Aktivitäten verlieren, härter arbeiten, öfter Freunde treffen oder wohlhabender und gelassener werden. Doch zeigt sich, dass es oft bei den guten Vorsätzen bleibt. Wir widerstehen der Versuchung des Kuchens nicht. Wir können uns nicht überwinden, in den Keller zu gehen und Gewichte zu stemmen. Wir sind zu faul, Familienangehörige oder Freunde anzurufen und zu bequem, etwas mit ihnen zu unternehmen. Wir regen uns immer wieder über die gleichen Dinge auf und lassen uns vom Smartphone oder Bildschirm ablenken und zerstreuen. Die eigene Inkonsequenz und Schwäche stimmt uns unzufrieden. Außerdem haben wir das Gefühl, uns nicht weiter zu entwickeln.

Was hindert uns?

Es gibt verschiedene Gründe, warum uns die Umsetzung unserer Absichten schwer fällt. Manchmal handelt es sich nicht um unsere eigenen Vorsätze. Hart zu arbeiten, fit, gebildet und wohlhabend zu sein oder auf Fleisch zu verzichten – das sind Normen die auch vom gesellschaftlichen Umfeld an uns herangetragen werden. Wir sind mit ihnen aufgewachsen, übernehmen sie unbewusst, haben sie aber nicht verinnerlicht. Es sind nicht unsere Ziele, sondern Erwartungen anderer.

Außerdem scheint unsere Natur mancher guten Absicht entgegen zu stehen, wie es schon in der Bibel (Matthäus 26,41) heißt: „Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.“ So fällt es schwer, eingeübte Gewohnheiten zu verändern, zumal wenn es an „Leidensdruck“ mangelt oder wenn sie bereits zur Sucht geworden sind. Die Zigarette nach dem Essen, das Glas Wein am Abend, der Blick auf die Timeline, das Spielchen auf der Konsole oder auf dem Handy sind Beispiele dafür.

Auch das natürliche Grundbedürfnis unseres Körpers nach Energie macht uns oft einen Strich durch die Rechnung. Manchmal scheint er nach Zucker, Fett und tierischem Eiweiß zu verlangen. Schokolade setzt „Glückshormone“ frei und wird dadurch zum Genuss. Auch Konsolenspiele und Social Media bewirken Gehirnaktivitäten, die ein „mehr davon“ signalisieren.

Hinzu kommt: Durch die wirtschaftliche, technologische und mediale Entwicklung ist für Viele von allem im Überfluss vorhanden, seien es Nahrungsmittel oder online verfügbare Informationen. Disziplinierende Mangelzustände, natürliche „Fastenzeiten“, gibt es kaum noch. Es kostet Überwindung und Anstrengungen, schneller Bedürfnisbefriedigung, die langfristig gesehen auch Schaden anrichtet, zugunsten positiver Effekte, die sich auf längere Sicht einstellen, zu widerstehen.

Schließlich setzt auch unser angeborenes Temperament einigen Absichten gewisse Grenzen, wir „können nicht aus unserer Haut“. Introvertierte meiden Geselligkeit sowie bestimmte Formen der Kommunikation und wer zur Lethargie neigt, muss sich zu körperlichen oder anderen Anstrengungen besonders überwinden.

Was können wir tun?

Trotz all dieser Schwierigkeiten gibt es mentale Strategien und Taktiken, die uns helfen, unsere Vorsätze besser in die Tat um zu setzen.

Am Anfang steht das gründliche Nachdenken über unsere Ziele, denn von dem, was wir anstreben, müssen wir überzeugt sein, um die für die Umsetzung notwendige Energie aufbringen zu können. Wir müssen unseren Absichten auf den Grund gehen: Warum will ich dieses oder jenes erreichen? Warum will ich mich verändern? Macht mich das Angestrebte tatsächlich glücklicher, zufriedener, gelassener, gesünder? Geht es mir langfristig gut damit? Man höre auf seine innere Stimme: Passt das Ziel überhaupt zu mir oder will ich doch nur die Erwartungen anderer erfüllen? Epikur meinte, an alle Wünsche solle man die Frage richten, was geschehe, wenn sie erfüllt seien. Es hilft, sich die Konsequenzen sowohl des Scheiterns als auch des Erfolgs vor Augen zu führen.

Im Weiteren ist es wichtig, sich nicht zu viel auf einmal vornehmen und sich zu fokussieren. Es reicht aus, sich auf eine, maximale zwei Verhaltensweisen, die man ändern möchte, zu konzentrieren. Anstatt den Verzicht auf schlechte Gewohnheiten anzustreben, ist es zudem besser, sie durch bessere Gewohnheiten zu ersetzen. Umgekehrt gilt es darauf zu achten, schlechtes Verhalten gar nicht erst zur Gewohnheit werden zu lassen.

Hilft es, seine Ziele schriftlich zu formulieren und deren Umsetzung dokumentieren? Sie im Tagebuch oder einem Journal aufzuschreiben und regelmäßig zu reflektieren, ist auf keinen Fall umsonst. Eine gewisse Routine ist hilfreich, man sollte jedoch das Maß beim Protokollieren wahren.

Was mir hilft

Im Detail muss jeder seinen eigenen Weg finden. Ich habe mir in den letzten Jahren folgendes Vorgehen zu eigen gemacht: Meine morgendliche Reflexion enthält die Frage: „Was ist die Pflicht des Tages?“ Dies hilft mir, mich auf die wichtigsten Dinge zu konzentrieren. Außerdem beginne ich den Tag mit guten Gewohnheiten – Meditation, Sport, gesundem Frühstück, Lesen und der für mich wichtigsten Aufgabe des Tages. Dies versetzt mich in gute Stimmung, ich freue mich, auf dem richtigen Weg zu sein und etwas geschafft zu haben.

Die Kraft aufzubringen, die eigenen Vorsätze in die Tat umzusetzen, bleibt trotzdem eine Lebensaufgabe.

Über Selbstbeherrschung und eine feste Gründung

das schwere ist die wurzel des leichten
die ruhe ist herr der erregung. (…)
den boden unter den füßen verliert der leichtnehmende
die herrschaft verliert der erregte.*

The heavy is the root of the light,
tranquility is the lord of agitation. (…)
If you regard things too lightly, then you lose the basic;
if you’re agitated, you lose the “lord”.**

Laudse/Lao-Tzu, Daudedsching/Te-Tao Ching

Was ist “das Schwere”? Was könnte “das Leichte” sein, das in ihm wurzelt oder wurzeln soll? Welche Dinge soll man nicht leichtfertig behandeln?
Als “leicht”, oberflächlich und haltlos könnte man das alltägliche menschliche Tun im Allgemeinen und die “Erregung”, also übertriebene Gefühle, im Besonderen verstehen. Wie das Leichte einer Verwurzelung bedarf, so bedarf Erregung der Beruhigung.

Im tiefergehenden Sinne bedürfen das menschliche Tun und insbesondere Gefühle einer Erdung durch ein “Schweres”. “Schwer” im Sinne von Halt gebend ist das Dau (auch Dao oder Tao), das grundlegende Prinzip im Daoismus, das auch als “Pfad” (Richtlinie) zu einer harmonischen menschlichen Existenz gilt. Es muss der “Lord” sein, muss das Tun leiten, denn ohne feste Gründung, ohne Bodenhaftung, ohne Verwurzelung in festen Grundsätzen sind alle menschlichen Aktivitäten letzlich auf Sand gebaut. “Flachwurzler” fallen einem Sturm als erste zum Opfer. Wer den Affekten freien Lauf lässt, verliert die Selbstbeherrschung, und damit auch seine Macht über andere.

Diese Überlegungen sind vertraut und sprechen für sich. Aber sind sie auch “empirisch”, das heißt: in Lebenserfahrung, begründet, oder sind sie nur Wunschdenken eines introvertierten Philosophen? Sind die Stillen, Ernsthaften und Selbstbeherrschten, die das Leben “schwer” nehmen, wirklich mächtiger? Liegt die Macht nicht doch eher bei den Lauten und Leidenschaftlichen, die sich über Bedenken hinwegsetzen und mit ihrer Energie Berge versetzen? Was ist so gefährlich daran, auch einmal “Dampf abzulassen”? Gelten diejenigen, die nie zornig sind, nicht als Idioten, wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik sagt?

Auch der Weise empfindet Zorn, aber er kann ihn beherrschen.
Selbstbeherrschung ist keine Garantie für Macht über andere.
Sich selbst beherrschen ist besser, als andere zu beherrschen.

Achten Sie heute einmal besonders darauf, gelassen zu bleiben und sich zu beherrschen.
Schreiben Sie Ihre Regeln und Prinzipien der Lebensführung auf und denken Sie darüber nach.

*in der Übersetzung von Ernst Schwarz, Leipzig 1970

**in der Übersetzung von Robert G. Henricks, Lao-Tzu Te-Tao Ching: A New Translation Based on the Recently Discovered Ma-wang-tui Texts, N.Y. 1989

Lichtenberg: Seinen Neigungen entgegenhandeln

Seinen Neigungen schlechtweg entgegen zu handeln führt gewiß am Ende zu etwas besserem

Aphorismenbücher, J 596

Warum?

Wir neigen zu dem was uns Lust bereitet und meiden das, was Unlust hervorruft. Das ist „menschlich“. Doch je öfter wir diesen Neigungen nachgeben, desto mehr verlieren wir an Festigkeit und Widerstandskraft gegenüber den Forderungen und Zumutungen des Lebens und der Natur. Damit es uns dauerhaft gut geht, müssen wir unsere Neigungen disziplinieren und lernen, kurzfristig Unlust zu ertragen.

Und umso mehr, wenn wir uns bessern wollen. Der bequeme Weg ist langfristig nicht der für uns beste Weg. Der für uns beste Weg ist derjenige, der uns voranschreiten, der uns wachsen lässt, der uns unserer Vervollkommnung näher bringt.

Wachsen bedeutet Widerstände zu überwinden, die größtenteils in uns selbst liegen. Die eigene Bequemlichkeit ist der größte Widerstand. Wir stehen uns und unserer Besserung selbst im Wege. Deshalb führt jede Selbstüberwindung „zu etwas Besserem“.

Einige Beispiele:

Fasten statt schlemmen.
Gym statt Couch
Warten statt losstürmen
Zuhören statt reden
Nein-Sagen statt zustimmen
Fokussieren statt Zerstreuen
Unterschiede statt Ähnlichkeiten sehen
Wichtiges sofort erledigen statt aufzuschieben
Lesen oder Schreiben statt E-Mails checken oder Social Media-Daddeln

Achten Sie heute einmal besonders auf Ihre Neigungen und geben Sie ihnen nicht nach.

Lao Tzu: Lob der Unwissenheit

„Gebt auf die Gelehrsamkeit! So werdet ihr frei von Sorgen.“
„Abandon learning, and there will be no sorrow.“

Tao Te Ching, ch 20*

Lerne, eigne Dir Wissen an, bilde Dich weiter – und es wird Dir gut gehen.
Gelehrsamkeit ist gut, ungebildet sein ist schlecht.
Sage Ja zum Lernen und Nein zur Unwissenheit.

Das Tao Te Ching stellt diese, nicht nur im Westen, sondern auch bei Konfuzius geläufigen Maximen in Frage und behauptet das Gegenteil: Wer mit dem Lernen aufhöre, wer die Begierde, immer mehr wissen zu wollen aufgebe, wer das bereits Erlernte ablege, der werde ohne Sorgen sein, und ohne-Sorgen-sein  ist vielleicht das Höchste, was man erreichen kann. Das Wissen der Menge, das von der Art ist, von der man mehr als genug hat, das man also eigentlich nicht braucht, sei nichts wert, sondern bringe nur Kummer und Sorgen.

Doch warum soll Unwissenheit  – wu zhi („ohne Wissen sein“) – gut sein? Soll das Volk vielleicht gar gezielt dumm gehalten werden, um es besser regieren zu können?

Die Kritik Lao Tzus richtet sich zum einen gegen die Gelehrsamkeit, die in Form von Schlauheit und Gerissenheit genutzt wird, die Gesellschaft zu spalten (zu differenzieren) und zur Herrschaft von Menschen über Menschen führt. „When knowledge and wisdom appeared, there emerged great hypocrisy.“ (ch 18)

Zum anderen kritisiert das Tao Te Ching die Art von Wissen, die ein wirkliches Verständnis der Welt verhindere, ein Wissen, das den Menschen von der Natur und vom Ursprünglichen (Tao) immer weiter entfremde. Wenn der Mensch nur „lerne“, die Natur immer besser zu beherrschen, indem er in natürliche Abläufe eingreife und reguliere, dann würden die Sorgen nicht weniger, sondern größer. Dagegen setzt Lao Tzu das Verlernen, Ignoranz diesem Wissen gegenüber, ja Dumpfheit.

Das Lob dieser Art Unwissenheit und Unkultiviertheit im vermeintlich ach so harmonischen Naturzustand reiht sich ein in den antizivilisatorischen Grundton des gesamten Werkes. Und gewiss stoßen die Tendenz zur Gleichmacherei natürlicher Ungleichheit (Differenziertheit) bei gleichzeitig elitärer Haltung („Ich allein weiß Bescheid – die Menge geht falsch“) unangenehm auf.

Lao Tzus Fragen nach der Qualität unseres Wissens, nach seinem Nutzen und nach seiner Funktion bleiben gleichwohl bedenkenswert.

*Tao Te Ching in der Übersetzung von Richard Wilhelm (Dt.) bzw. Wing-Tsit Chan, A Source Book in Chinese Philosophy, Princeton 1973. (Eng.)