Sun Tzu: Die Kunst des Krieges

Auch Sunzi (= Meister Sun), engl.: The Art of War, chinesisch: Sun Zi Bingfa)

Those who know when to fight and when not to fight are victorious.
(Kap. 3)

Der Text ist ein Handbuch, ein Regelwerk, ja eine „Bibel“ für den Feldherrn. Doch warum wird er auf einer Seite über Lebenskunst und Lebensweisheit empfohlen?
Weil es in ihm weniger um den konkreten Waffeneinsatz oder um die Anwendung von Kriegslist und Planung für einzelne Gefechte geht, sondern um eine Militärphilosophie. Der Sieg soll ausdrücklich durch Weisheit, nicht durch Gewalt, errungen werden. Auch gehören Konflikte, nicht nur militärischer Art, zum Kern menschlicher Existenz. So verstanden handelt es sich um einen Weisheitstext.

Das Werk wird üblicherweise in 13 Kapitel unterteilt. Sie tragen Überschriften wie „Planung“, „Gelände“ „Das Schwert in der Scheide“, „Energie“ oder „Varianten“, wobei die Übersetzer hier relativ freie Hand zu haben scheinen. Nicht alle Gedanken in den einzelnen Kapiteln lassen sich diesen Überschriften inhaltlich zuordnen. Die Kapitel bestehen wiederum aus Sinneinheiten, die von den Übersetzern auf unterschiedliche Weise durch Absätze kenntlich gemacht werden. Wie kurz oder lang die einzelnen Sätze sind, hängt von der Übersetzung ab. Es scheint, als ließe sich der jeweilige Kerngedanke im Englischen mitunter prägnanter ausdrücken als im Deutschen.

Nach Ansicht von Experten ist die gängige Übersetzung des Werkes mit „Kriegskunst“ problematisch, da das Wort „Kunst“ selbst nur einmal im Text vorkommt. Demgegenüber geht es viel mehr um Regeln, die einzuhalten sind, als um „Kunst“, weshalb „Gesetze des Krieges“ oder „Das Regelwerk des Krieges“ als Titel geeigneter wären.

Eingangs betont das Werk die Bedeutung der Kriegskunst für eine Nation. Verfügt ein Land neben einem fähigen Fürsten auch über geschickte Feldherren, so kann es prosperieren. Andernfalls sind Sicherheit und Wohlstand gefährdet.

Von zentraler Bedeutung für den gesamten Text ist der Gedanke, die Kunst des Krieges bestehe wesentlich nicht in der Kunst des bewaffneten und gewaltsamen Waffengangs, sondern darin, durch kluges und listiges Vorgehen ohne den Einsatz militärischer Gewalt zu siegen. Schlachten würden nicht durch die Tapferkeit Einzelner, sondern durch Scharfsinn entschieden. Der beste Sieg sei der Sieg ohne Kampf, denn die bewaffnete Auseinandersetzung verschlinge personelle und ökonomische Ressourcen eines Landes.

Über allem stehen daher die sorgfältige Analyse des Gegners, Selbsterkenntnis und die richtige Einschätzung der Situation bzw. des Geländes. „Weiß man über das Gegenüber Bescheid und weiß man über sich Bescheid, dann werden hundert Waffengänge kein Unheil bringen.“ (3. Kap.) Wenn diese Analysen zu der Einschätzung führten, der Gegner sei besser aufgestellt oder man selbst schlecht vorbereitet, so müsse man den Kampf vermeiden. Angreifen solle man nur dann, wenn man sich des Sieges nach Abwägung aller Vor- und Nachteile des Waffengangs sicher sei.

Von wesentlicher Bedeutung bei dieser Strategie sind List und Täuschung. Irreführung des Gegners schone eigene Ressourcen und verbessere die eigene Stellung. Täuschung ist dabei nicht mit Heimtücke zu verwechseln. Beispiele für Kriegslisten sind das Vorspiegeln falscher Stärken, Schwächen und Absichten sowie Hinterhalte, Scheinstellungen, Scheinoperationen und dergleichen. Um den Gegner täuschen und überlisten zu können, muss man ihn aufklären und ausspionieren und spiegelbildlich dazu, sich selbst geradezu unsichtbar und unergründlich machen. Im Krieg muss man seine Absichten, seine Stärke und seine Aufstellung verbergen. Der Gebrauch von Spionen ist essenziell, ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Neben der strategischen Planung, der äußerst sorgfältigen Vorbereitung und Aufklärung sowie der Kriegslist sind weitere Aspekte für die erfolgreiche Kriegführung von Bedeutung, zunächst psychologische Faktoren. Man selbst dürfe sich nicht von Emotionen leiten lassen, andererseits müsse man die der menschlichen Natur entspringenden Gefühlsregungen (wie Jähzorn, Hochmut, Gier oder Angst) beim Gegner und bei den eigenen Soldaten kennen und ausnutzen. Des Weiteren solle man flexibel und anpassungsfähig auf die ständige Veränderung des Gegners und der Situation reagieren können. Schließlich betont das Werk die Bedeutung des Momentums, das heißt den Nutzen von Energie, Fokussierung, Überraschung und Schnelligkeit für die eigene Durchschlagskraft.

Der geschickte Feldherr, an den sich der Text richtet, zeichnet sich zusammengefasst dadurch aus, dass er weiß, wann und wie er zu den Waffen greifen und wann er dies vermeiden muss. Er wägt sorgfältig Vor- und Nachteile des Waffengangs sowie Stärken und Schwächen der eigenen Armee und des Gegners ab. Er hat seine Leidenschaften unter Kontrolle und führt seine Soldaten durch Güte und Strenge.

„Bei einem Militäreinsatz sind nicht möglichst viele Soldaten von Nutzen. Man sollte nur nicht unbesonnen (…) angreifen, und im übrigen genügt es, die eigenen Kräfte zu bündeln, Klarheit über die Lage beim Feind zu gewinnen und sich die Unterstützung der eigenen Männer zu sichern. Damit hat sich’s.“ (9. Kap.)

Die Sprache des Textes ist bildhaft und bedient sich vieler Beispiele aus der Natur: der Energie und Formlosigkeit des Wassers, der Schnelligkeit und Wucht des Blitzes, der Genauigkeit des hinabstoßenden Falken. Aber auch in Maximen wie „Sieg ohne Kampf“ sowie der Wertschätzung für Selbsterkenntnis und „Unergründlich-Sein“ spiegelt sich der Einfluss taoistischen Denkens wider. Nicht zufällig, ist das Werk doch in der gleichen Periode wie etwa Laotses „Tao te King“ erschienen. Allerdings zielt die „Kunst des Krieges“ zwar auf die Vermeidung eines gewaltsamen Waffengangs, doch findet man keine kritische Bewertung des Einsatzes von Gewalt, die derjenigen Laotses, etwa im 30. Kapitel des „Tao te King“, vergleichbar wäre.

Die Entstehungszeit und die Identität des Autors sind umstritten. Vor allem von westlichen Sinologen wird die These vertreten, der Text sei in einem mehrhundertjährigen Prozess zwischen der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts und der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. von mehreren Autoren verfasst worden. Sicher ist eine Abfassung vor ca. 118 v. Chr., da 1972 eine genau datierbare und umfassendere als bis dahin bekannte Version des Textes als Grabbeigabe gefunden worden ist. In chinesischen Fachkreisen geht man dagegen mehrheitlich davon aus, dass ein Mann mit Namen Sun Wu (* um 535, gest. 480) das Werk gegen Ende der so genannten Frühlings- und Herbstperiode (zw. 770 und 476 v. Chr.) verfasst und im Jahre 512 v. Chr. vorgelegt hat. Er soll das Werk dem König He Lü überreicht und dem Königreich Wu anschließend lange als Feldherr gedient haben.

Zunächst gelangte der Text nach Japan. Erst 1772 erfolgte die erste Übersetzung ins Französische und ca. hundert Jahre später folgte die erste Übersetzung ins Russische. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Übersetzungen ins Englische und ins Deutsche. Während der Text in China bis heute nachhaltig nachwirkt, zum Beispiel in Form der militärischen Supraplanungslehre, ist er westlicher Militärstrategie bis auf taktische Anwendungen fremd geblieben. Sein militärphilosophisches Kernanliegen, den gewaltsamen bewaffneten Konflikt möglichst zu vermeiden, findet nicht nur keine Entsprechung in westlichen Militärdoktrinen, sondern steht im Gegensatz dazu. Nach von Clausewitz gilt Krieg als Akt der Gewalt, bei dessen Anwendung es keine Grenzen gebe. Allerdings sind zentrale Überlegungen vielfach auf andere Bereiche, wie das Management von Organisationen und Institutionen, auf die Konkurrenz von Unternehmen oder auf nicht-militärische Konflikte übertragen worden.

Meine Einschätzung
Meister Suns Militärphilosophie ist nicht umsonst Pflichtlektüre für militärische, wirtschaftliche und sonstige Führungskräfte. Wesentliche Gedanken sind auf nichtmilitärische Konflikte im Alltags- und Berufsleben anwendbar. Die Reflexion der in dem Werk beschriebenen Strategien und Taktiken ist von Nutzen, um in diesen Konflikten zu bestehen. Die Wertschätzung für sorgfältige Planung, Ressourcenschonung und Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt ist nicht nur nützlich, sondern auch menschlich sympathisch. Die Lektüre vermittelt zugleich einen vertiefenden Eindruck von der Anwendbarkeit taoistischer Grundsätze auf einen konkreten Bereich menschlichen Lebens.

Ausgaben
Die Übersetzung der ca. 6 000 chinesischen Schriftzeichen des Textes ist mit vielfältigen Schwierigkeiten verbunden. Nicht nur, dass ein Schriftzeichen viele Bedeutungen haben kann, auch deuten sie oft manches nur an und bieten dadurch großen Interpretationsspielraum. Darüber hinaus sind Schriftzeichen aus dem Ursprungstext aufgrund von Tabuisierung entfallen. Eine maßgebliche Textversion gibt es nicht.

Empfohlen wird die preiswerte Reclam-Ausgabe mit umfangreichen Anmerkungen und Erläuterungen, aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Harro von Senger unter dem Titel „Meister Suns Kriegskanon“, Stuttgart 2011. Dieser Übersetzung liegen neueste chinesische Versionen, die auch die Grabfunde von 1972 vom Silbersperlingsberg berücksichtigen, zugrunde. Senger hat nicht nur den Urtext übersetzt, sondern diesen selbst mit Text ergänzt, der den Sinn besser verdeutlichen soll. Dies erleichtert das Verständnis, schränkt den Interpretationsspielraum aber auch ein. Immerhin sind diese Ergänzungen kursiv markiert. Senger orientiert sich bei seiner Übersetzung an aktuellen chinesischen und japanischen Kommentatoren. Leider gehen durch die Textergänzung Prägnanz und aphorismenhafte Kürze verloren. Senger widmet dem Vergleich mit von Clausewitz‘ Werk „Vom Kriege“ in Bezug auf die Wertschätzung der List ein umfangreiches Kapitel seines Nachwortes.

Eine empfehlenswerte englischsprachige Ausgabe ist:
The Art of War. Complete texts and commentaries. Sun Tzu. Translated by Thomas Cleary, Boston & London 2003.
Diese enthält weitere Texte aus dem Umfeld sowie umfangreiche und informative Einführungen, vor allem auch Erläuterungen zum Einfluss des Taoismus. Die Besonderheit der Ausgabe liegt darin, dass klassische Kommentierungen, darunter des Ahnherrn aller chinesischen Sun Tzu-Kommentatoren Cao Cao (155-220 n. Chr.), direkt in den Text integriert sind. Dies verdeutlicht das Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten einzelner Textstellen.

Englischsprachige Erstübersetzung von Lionel Giles inklusive chinesischer Schriftzeichen – Online

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