Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden …(epist 20, 2)
In den „Epistulae Morales ad Lucilium“ (Auch: „Moralische Briefe“) erörtert der römische Politiker und Autor Seneca (1-65 n. Chr.) knapp, anschaulich und eingängig zentrale Themen der guten und „richtigen“ Lebensführung. Er folgt dabei den Idealen und Vorstellungen der Stoa, wonach nur ein naturgemäßes und um sittliche Vollkommenheit bemühtes Leben ein wahrhaft glückliches Leben verbürge. Die „Moralischen Briefe“ sind eine lebenspraktische Anleitung, dieses Ziel zu erreichen.
Ihre Entstehung wird auf die Zeit zwischen 62 und 64/65 n. Chr. datiert. Seneca hatte sich aus dem Staatsdienst zurückgezogen, nachdem er die Nutzlosigkeit seiner erzieherischen Bemühungen in Bezug auf Kaiser Nero erkennen musste. Die Gesamtzahl der Briefe entspricht einer Schreibleistung von etwa einem Brief pro Woche. Sie sind an eine reale Person – Lucilius junior, Verwalter kaiserlicher Finanzen auf Sizilien – adressiert, aber zugleich auch für die Öffentlichkeit bestimmt.
In den einzelnen Briefen, die in 20 „Büchern“ zu je drei bis zehn Briefen zusammengefasst sind, werden in der Regel ein bis zwei Themen aufgegriffen und vertieft behandelt. Das Briefwerk ist nicht vollständig erhalten, es fehlen bislang mindestens zwei der letzten Bücher. Da die Briefe inhaltlich in sich abgeschlossen sind und nicht aufeinander aufbauen, muss man sie nicht am Stück, sondern kann sie unabhängig voneinander lesen.
Voraussetzung für ein glückliches und gelingendes Leben ist nach Seneca die Einsicht, wonach man streben und was man meiden soll. Diese Einsicht nennt man Weisheit. Den Weg zu ihr bereite die Philosophie, wörtlich: Liebe zur Weisheit. Doch weltfremdes Theoretisieren und Daherreden seien ihre Sache nicht, vielmehr soll das Gelesene sogleich auf die eigene Lebensführung bezogen werden (epist. 89,18). Diese Forderung spiegelt sich auch in einer bis heute aktuellen Klage Senecas, die nach wie vor die Bildungsdiskussion prägt: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“ (epist. 106, 12) Für Seneca ist Philosophie Lebenskunst.
Aus diesen Grundsätzen folgen die wesentlichen Forderungen für die Lebensführung: Selbstgenügsamkeit, Gelassenheit im Ertragen des Schicksals, Verzicht auf äußere „Güter“ wie Reichtum und Ruhm sowie Konzentration auf das Wesentliche. Täglich müsse man sich um Besserung bemühen, Denken, Sprechen und Handeln müssten übereinstimmen. Weitere wiederkehrende Themen sind unter anderem: der richtige Gebrauch der Lebenszeit, Furchtlosigkeit vor dem Tod, politisches Engagement, wie und was man lesen und schreiben soll, Freundschaft. Von der Volksmenge als dem Pöbel, der zum Laster treibe, zeichnet Seneca ein negatives Bild. Die stoischen Ansprüche und Ziele könne man daher nur als Einzelner, in Abgrenzung von der Masse, erreichen.
Seneca sieht sich selbst als Ratgeber und mahnender Erzieher, seine „Briefe“ versteht er als Heilmittel und Wegweiser. Sie zeichnen sich daher nicht allein durch ihren Inhalt aus, sondern auch durch ihre Anschaulichkeit, ihre Verständlichkeit und ihre didaktische Qualität. Gerade hierin liegt ihr besonderer Wert: Die stoischen Maximen werden für die Lebenspraxis nutzbar gemacht.
Obgleich Seneca vielen stoischen Ansprüchen durch diese Konfrontation mit dem realen Leben ihre dogmatische Schärfe nimmt, sieht er sich mit dem Vorwurf konfrontiert, zwischen den ethischen Forderungen und der eigenen Lebenspraxis klaffte eine allzu große Lücke. So dienen die Briefe mitunter auch der eigenen Rechtfertigung und, wenngleich meines Erachtens zu selten, auch als Eingeständnis eigener Schwäche und Unzulänglichkeit. Es sind Ermahnungen nicht nur des Lucilius, nicht nur der Leserschaft, sondern auch Selbstermahnungen.
Meine Einschätzung
Die „Moralischen Briefe“ gehören wegen ihrer Lesbarkeit, Tiefgründigkeit und meisterhaften Sprache zu meinen Must-Read-Titeln. Sie sind in ihrer Fülle an zeitlosen Aphorismen für die Ewigkeit unerreicht. Seneca kommt in ihnen meistens schnell zur Sache, ohne erst lange drumherum zu reden. Zudem zeichnen sich seine Forderungen durch Lebensnähe und Realismus aus. Die Texte sind alltagstauglich. Seneca greift gegenteilige Auffassungen sowie eigene Ausflüchte und Schwierigkeiten auf und setzt sich mit ihnen auseinander. Wegen ihres begrenzten Umfangs, ihrer Eingängigkeit und ihrer Abgeschlossenheit eignen sich die „Moralischen Briefe“ zur Morgenlektüre als Einstimmung und Ermahnung für jeden Tag.
Empfohlene Ausgabe
Preisgünstige Reclam-Ausgabe in insgesamt 20 Heften, Lateinisch/Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Franz Loretto, Rainer Rauthe und Heinz Gunermann. Ich bevorzuge diese Ausgabe wegen der eleganteren und dem heutigen Sprachempfinden geläufigeren Übersetzung sowie der umfangreicheren Anmerkungen und Nachworte. Außerdem kann man für den Einstieg erst einmal eines der Heftchen kaufen, lesen und testen, ob man damit etwas anfangen kann. Ich empfehle hierfür das 4. Buch (Briefe 30 bis 41).
Weitere Literatur
Manfred Fuhrmann, Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie, Berlin 1997.