Marc Aurel: Selbstbetrachtungen

Von Rusticus bekam ich die Überzeugung eingeprägt, ich müsse an der Ausbildung und Besserung meines Charakters arbeiten, alle sophistische Leidenschaft vermeiden, nicht über leere Theorien Schriftstellerei treiben, keine Sittenpredigten halten, noch in augenfälliger Weise den Asketen oder Menschenfreund spielen; er bewahrte mich auch vor jedem rhetorischen und poetischen Wortgepränge, jeder Schönrednerei, vor Kleiderluxus und all derartigem. (I, 7)

In den „An sich selbst“ gerichteten Aufzeichnungen vergewissert sich der römische Kaiser Marcus Aurelius Antoninus Augustus (26.04.121-17.03.180) der Maximen seiner Lebens- und Amtsführung. Ihr Fundament sind ethische Prinzipien, insbesondere der Stoiker Poseidonios und Epiktet, aber auch aus anderen Schulen. Die „Meditations“, so die englische Übersetzung, sind ein beeindruckendes Zeugnis für den Versuch, die Philosophie auf das eigene Handeln anzuwenden. Sie sind ein Musterbeispiel für Philosophie als praktizierte Lebenskunst.

Die Texte von unterschiedlicher Länge, die in zwölf Büchern zusammengefasst sind, entstanden in den letzten zehn Lebensjahren des Kaisers (171-180) in Feldlagern während der Kriege gegen germanische Stämme an der Nordgrenze des Reiches. Sie waren wahrscheinlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Eher dienten sie Aurel der Selbstprüfung und -beobachtung, als Einstimmung auf die Anforderungen des Tages und als zu verinnerlichende ethische und politische Grundsätze.

Im I. Buch, das in seinem Stil für die philosophische Literatur einzigartig ist, dankt Aurel seinen Eltern, Verwandten und Lehrern sowie den Göttern. Es geht allerdings um weit mehr als nur einen Rückblick auf Personen, die den eigenen Werdegang geprägt haben. Es handelt sich um die Würdigung wesentlicher Lebensleitlinien, die die Grundlage für die eigene Lebensgestaltung bilden sollen, um eine Art Tugendkatalog. Sie betreffen das Verhältnis des Menschen zum Weltganzen („Allnatur“), zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst.

Erstrebenswerte Tugenden sind: Gelassenheit, Bildung, schlichte Lebensweise, gemeinnütziges Handeln und Solidarität mit den Mitmenschen, Arbeit an sich selbst sowie Wahrheit im Reden. Die Einsicht in die kosmischen Kreisläufe hilft, das eigene Schicksal zu ertragen und richtig zu handeln. Als Grundsätze für die Amtsführung als Imperator gelten klaglose Pflichterfüllung, Gerechtigkeit und Gründlichkeit in der Rechtsprechung sowie Sparsamkeit im Umgang mit öffentlichen Mitteln. Der Volksmenge soll man nicht gefallen wollen.

Der Vorwurf des Mangels an philosophischer Originalität der Aufzeichnungen verkennt, dass es Aurel nicht um neue Erkenntnisse oder ein neues philosophisches System ging, sondern um ein ethischen Prinzipien folgenden richtiges Leben unter den Bedingungen, die das Kaiseramt mit sich brachte. Hiervon zeugt nicht zuletzt das I. Buch, in dem Aurel deutlich macht, wie sehr sein Handeln auf Prinzipien seiner Lehrer und Vorgänger beruht und dass er „Neuerern“ kritisch gegenübersteht.

Die Kritik an der Diskrepanz zwischen den formulierten Maximen wie Menschenliebe und Solidarität sowie der Sklavenfolter, den Kriegen zur Aufrechterhaltung des Imperiums und der Christenverfolgung während seiner Regentschaft verweisen auf die Spannung zwischen moralischen Ansprüchen und politischem Handeln, die immer wieder neu auszubalancieren sind.

Meine Einschätzung
Die „Selbstbetrachtungen“ verdeutlichen, dass Lebenskunst vor allem darin besteht, die richtigen und wesentlichen Maximen zu erkennen und diese selbstdiszipliniert zu befolgen. „An sich selbst“ sind ein Must-Read als Zeugnis des Versuchs, Philosophie als Lebenskunst auf diese Art unter den Bedingungen des Alltags zu praktizieren . Ihre Lektüre übt eine beruhigende, geradezu therapeutische Wirkung aus. Die Maximen sind zeitlos aktuell. Die Texte dienen nicht nur als Anleitung und Richtschnur für das eigene Verhalten. Sind sind zugleich ein Vorbild für den täglichen Selbstdialog zum Zwecke der Arbeit am eigenen Charakter mit dem Ziel der Bewältigung der Anforderungen des Lebens.

Empfohlene Ausgaben
Aus dem Griechischen von Otto Kiefer, erstmals 1920, als Insel-Taschenbuch 1374, Frankfurt am Main und Leipzig 1992.
Aus dem Griechischen von Albert Wittstock, Verlag von Philipp Reclam jun. Stuttgart 1949 bei Projekt Gutenberg

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