Gracian: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Aphor. 13

Das „Oráculo manual y arte de prudencia“ (englisch: The Art of Worldly Wisdom) des spanischen Jesuiten und philosophischen Schriftstellers Baltasar Gracián (1601-1658) ist eine Sammlung von 300 Regeln für die Lebensführung. Sie besitzt besonderen Wert als Ratgeber für ein klassischen Tugenden verpflichtetes Leben unter den Bedingungen des notwendigen Umgang mit mächtigeren, dummen und oft boshaften Mitmenschen. Gracián Sentenzen sind zugleich eine Kritik des Zustands und des moralisch-politischen Klimas der spanischen Gesellschaft am Beginn des 17. Jahrhunderts.

Die Anthologie entstand 1646 auf Veranlassung des Humanisten Don Vicencio Juan de Lastanosa, des Beschützers und Mäzens Graciáns, der auch als Herausgeber fungierte. Gracián fasst in dem Handbuch auf der Basis bereits veröffentlichter und unveröffentlichter Schriften das Wesentliche seines Denkens zusammen. Das Büchlein gilt damit gewissermaßen als dessen Quintessenz.

Graciáns Denken ist durch sein intensives philosophisches und theologisches Studium, durch seine Tätigkeit als Lehrer und Beichtvater, sowie durch seine Erfahrungen am spanischen Hof geprägt. Zu seinen geistigen Quellen zählen die antiken Philosophen, insbesondere die Stoiker, aber auch Renaissance-Denker wie Machiavelli.

Die Anordnung der 300 Reflexionen folgt keiner Systematik. Am Beginn jedes Textes steht eine aus wenigen Worten bestehende Maxime, die andeutet, worum es im Weiteren geht, wie zum Beispiel: „Über sein Vorhaben in Ungewißheit lassen.“, „Die Daumschraube eines Jeden finden.“ oder „Sich zu entziehn wissen.“ Das Thema wird in wenigen knappen, aphoristischen und oft lakonischen Sätzen behandelt.

Ziel der Lebenskunst ist nach Gracián die individuelle Persönlichkeit, die idealerweise nach Vollkommenheit strebt und sich von nichts anderem als der Vernunft leiten lässt. „Die Vollkommenheit besteht nicht in der Quantität, sondern in der Qualität.“ (Aphor. 27) Universelle Bildung genießt größte Wertschätzung. „Das Wissen ist lang, das Leben kurz, und wer nichts weiß, der lebt auch nicht.“ (Aphor. 15) Selbstbeherrschung, Wahrheitsstreben und persönliche Autonomie sind zentrale Werte des Moralisten Gracián.

Dabei muss sich der Mensch in einer eher feindlich gesinnten Umwelt gegenüber den Mächtigen und den Mitmenschen bewähren. Das soziale Leben des Individuums – für Gracián ein Krieg. In diesem Kampf reicht tugendhaftes Verhalten allein für ein gelingendes Leben nicht aus. Es muss um „prudencia“, was nicht nur „Klugheit“, sondern auch „Vorsicht, Besonnenheit“ meint, ergänzt werden. Täuschen, tricksen und tarnen sind dabei nicht unmoralisch, sondern notwendig. Die Diskrepanz zwischen Graciáns Forderungen nach Wahrheitsliebe und Rechtschaffenheit sowie solchen lebenstaktischen Empfehlungen ist nicht unproblematisch. Von der kaiserlichen Milde eines Marc Aurels ist in Bezug auf seine Mitmenschen bei Gracián nichts zu spüren. Gleichwohl ist die Meinung der Zeitgenossen, sind Ansehen, Größe und Ruf, wichtig. Nicht um der Eitelkeit zu frönen, sondern um das eigene Lebensziel zu erreichen.

Schopenhauer bezeichnete Gracián als seinen Lieblingsschriftsteller. Er gilt als Vorläufer der europäischen Aufklärung. Im Verhältnis zu anderen klassischen Autoren sowie zur Tiefgründigkeit seines Werkes ist er aber auch heute noch weitgehend unbekannt.

Meine Einschätzung
Das Handbuch der Weltklugheit bietet in komprimierter und einzigartiger Form Zugang zu Graciáns Einsichten, deren Beherzigung bzw. Reflexion das eigene Leben nicht nur erträglicher, sondern auch fruchtbarer macht. Dies gilt vor allem für den Umgang mit schwierigen Vorgesetzten oder für das Leben unter politischen Verhältnissen, in denen Offenheit und freimütige Meinungsäußerung teuer zu stehen kommen können. Wenn man, wie ich, kein Spanisch kann, ist es hilfreich, eine englische Übersetzung zu Hilfe zu nehmen. Selbst wenn Schopenhauers Übersetzung auch für das heutige Sprachempfinden sehr gut lesbar ist, so bietet eine englische Übersetzung einen zusätzlichen, erhellenden nuancierten Zugang zum Werk. Aufgrund ihrer Prägnanz und inneren Abgeschlossenheit kann man die Maximen gut in täglichen Dosen zu sich nehmen. Schlagen Sie einfach eine Seite auf und fangen Sie an zu lesen. Sie werden es nicht bereuen

Ausgabe
Deutsch von Arthur Schopenhauer, herausgegeben und mit einem sehr guten Nachwort versehen von Carlos Marroquin in der Sammlung Dieterich, Leipzig 1982.

Auf http://www.handorakel.de sind alle Maximen versammelt, man kann sie hier gewissermaßen per Online-„Handbuch“ in täglicher Dosis genießen.

Eine hilfreiche klassische englische Übersetzung von Joseph Jacobs findet sich hier.

Zum Weiterlesen
Graciáns opulenter, überbordender, mit Lebensweisheit „vollgestopfter“ satirisch-philosophischer Roman von 1000 Seiten: Das Kritikon (erschienen 1651, 1653 und 1657), übersetzt von Hartmut Köhler, bei Ammann, Zürich 2001.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert