Finde heraus, was dir wirklich wichtig ist

wer andere kennt ist klug
wer sich kennt ist weise
Laozi, 33

Es gibt Menschen, die scheinen genau zu wissen, was sie wollen. Ihr gesamtes Reden und Tun ist von einer einzigen Sache durchdrungen. Manche wenden sehr viel Zeit und Ressourcen für das Studium von Börsenkursen, für sportliches Training oder für die Lektüre von Tageszeitungen auf. Andere sprechen von nichts anderem als von ihren Kontakten zu vermeintlich bedeutenden Personen. Wieder andere genießen es, im Rampenlicht zu stehen und möchten stets den Vorsitz bzw. das Wort führen. Schließlich gibt es jene, die sich in ein wissenschaftliches oder technisches Problem vertiefen und derart besessen an dessen Lösung arbeiten, dass sie Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen vernachlässigen. Ihnen allen gemeinsam ist die Fokussierung auf eine Aktivität bzw. ein Ziel, so verschieden diese auch sein mögen.

Was dem einen besonders wichtig ist, ist für den anderen vollkommen wertlos. Man kann verständnislos den Kopf darüber schütteln, sich davon distanzieren oder den anderen dafür bemitleiden oder gar verachten. Mitunter mag die Fokussierung vielleicht auch doch keine gänzlich bewusste Entscheidung sein. Doch ändert dies nichts daran, dass Erkenntnis des Wesentlichen und Konzentration darauf erstrebenswert sind.

Üblicherweise geben Menschen in Meinungsumfragen auf die Frage, was ihnen besonders wichtig sei, Antworten wie „ein sicherer Arbeitsplatz“, „Umweltschutz“ oder „Freunde“. Dass dem tatsächlich so ist, möchte ich im Folgenden nicht in Frage stellen. Der Schwerpunkt liegt in diesem Artikel jedoch auf Grundwerten unterhalb der Oberfläche, die von der Demoskopie bei solchen Studien selten durchdrungen wird, etwa Streben nach Anerkennung oder Überlegenheit, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder Ziele wie innere Gelassenheit und Fürsorge für andere.

So leicht es oft fällt, diese Motive bei anderen zu erkennen, wenn man sie nur lange und gründlich genug beobachtet, so wenig Klarheit herrscht diesbezüglich bei uns selbst. Doch diese Unklarheit ist ein Problem.

Problematische Unklarheit über die eigenen Grundwerte und Ziele

Heutzutage gibt es Vieles, das erstrebenswert ist oder als wünschenswert gilt, doch die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen an Lebenszeit und –energie sind begrenzt. Deshalb bedeutet ihr Einsatz für das eine zugleich Verzicht auf anderes. Wenn wir hart, und das heißt: nahezu ausschließlich, für die Karriere im Beruf arbeiten, bleibt weniger Zeit für die Partnerin, die Kinder und Freunde oder für gesundheitsfördernde Körperertüchtigung.

Diejenigen, denen beruflicher Erfolg über alles geht, nehmen diese Nachteile zumindest für eine gewisse Zeit in Kauf. Später stellen sie mitunter fest, dass ihnen andere, hierdurch vernachlässigte Dinge gleichermaßen wichtig oder bedeutsamer sind. Gleichzeitig steht fest, dass man das Ziel, zu den Besten in seinem Job, in einer sportlichen Disziplin oder in der wissenschaftlichen Forschung zu gehören, nur erreicht, wenn man nahezu sämtliche eigene Ressourcen darauf konzentriert. Überlegenheit bedarf mehr der Tiefe als der Breite. Zudem ist eine solche Fokussierung allemal besser, als zum Spielball der Interessen anderer zu werden, weil man sich über die eigenen nicht klar genug ist.

Eine andere Frage ist, ob wir tatsächlich glücklicher sind, wenn wir diese Klarheit über unsere Ziele und Antriebskräfte besitzen. Sind diejenigen, die in den Tag leben, sich der Zerstreuung hingeben und keinen Gedanken daran verschwenden, nicht oft zufriedener? Wie kann es nützlich sein, wenn uns das Grübeln zur Qual wird? Warum fällt es uns oft schwer zu erkennen was uns wirklich wichtig ist? Ein Teil der Antwort versteckt sich im Wörtchen „wirklich“.

Schwierigkeiten

Auch wenn wir uns dessen bewusst sind, wie wichtig es ist, sich über die eigenen Grundwerte klar zu werden, so fällt uns dies nicht immer leicht. Oft werden sie von dem verdeckt, was uns in unserer Kindheit „eingeimpft“ worden ist. In meiner Schulzeit ging es beispielsweise nicht darum, herauszufinden was mir wichtig ist, sondern welchen Beitrag ich für den Sozialismus, den Frieden oder das Land leisten konnte. Heute leiden junge Mädchen, weil ihr Körper nicht dem Ideal entspricht, das Medien und Werbung vermitteln. Meine erwachsene Tochter sagte mir, sie habe sich als Kind oft von meiner Erwartung, sich anstrengen zu müssen, unter Druck gesetzt gefühlt.

Doch was kann daran schlecht sein, wenn wir als Eltern unseren Kindern eigene Lebenserfahrungen oder Grundsätze „mit auf den Weg geben“ wollen? Dagegen ist an sich nichts zu sagen, doch schießen wir manchmal über das Ziel hinaus. Selbst Vorbild sein und Überzeugungsarbeit leisten sind jedenfalls erfolgversprechender als gut gemeinter Druck oder gar Zwang. Was gut oder schlecht für unsere Kinder ist, was sie anstreben oder vermeiden sollten, können sie letztlich nur selbst für sich herausfinden. Wir sollten es unseren Eltern nicht allzu sehr verübeln, dass sie „doch nur das Beste“ für uns wollten und bei unseren Kindern müssen wir uns damit abfinden, wenn sie andere Prioritäten setzen als wir vielleicht erhofft haben.

Die eigenen Antriebskräfte zu erkennen, fällt aber nicht nur deshalb schwer, weil wir uns davon lösen müssen, was andere uns als erstrebenswert vermittelt haben. Hinzu kommt, dass dies Ehrlichkeit zu uns selbst erfordert. Sich nicht nur mit oberflächlichen, allgemein akzeptierten und anerkannten Antworten zufrieden zu geben, sondern dabei verborgene weniger sozial erwünschte Motive freizulegen und sich einzugestehen, erfordert Mut. So verbirgt sich hinter Engagement in der Politik, in Medien oder in der Wissenschaft nicht selten ein Bedürfnis nach Anerkennung und Ansehen. Schon den antiken Philosophen, die predigten, dem Ruhm zu entsagen, wurde zu Recht vorgehalten, damit letztlich nur öffentlich glänzen oder Aufmerksamkeit erzeugen zu wollen.

Die eigenen Grundwerte erkennen

Drei Dinge können bei der Selbsterkenntnis helfen: Achtsam sein, es aufschreiben, sich immer wieder Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Der Verhaltenstherapeut Jens Corssen meint dazu: „Man beobachtet sich über längere Zeit, um herauszufinden, was einen wirklich interessiert. Wo und wann klopft mein Herz? Was macht mir Freude, wo bleibe ich ohne Zwang dabei?“

Unsere Grundwerte kommen weniger im Reden, mehr in unseren Entscheidungen und im konkreten Tun zum Ausdruck. Um sie zu erkennen, müssen wir daher unser Handeln und die ihm vorausgegangenen Entscheidungen unter die Lupe nehmen.

Wir können zwischen alltäglichen, oft scheinbar weniger bedeutsamen Entscheidungen sowie besonders wichtigen Entscheidungen unterscheiden. Beide Formen geben Auskunft darüber, was für uns letztlich zählt. Jede Entscheidung ist eine Weggabelung, an der wir die weitere Richtung unseres Weges bestimmen. Jede Antwort spiegelt, was uns wirklich wichtig ist. Zunächst zu den kleinen, aber nicht unwichtigen Entscheidungen.

Was isst du zum Frühstück? Marmeladenbrötchen, Haferbrei oder grünen Salat mit Ei? Süß, salzig und fettig oder nährstoffreich? Oder lässt du das Frühstück bewusst ausfallen? Die Wahl sagt einiges darüber aus, wie wichtig dir deine Gesundheit ist.

Im Büro angekommen – fuhrst du mit dem Rad oder mit dem Auto dorthin? – was machst du als erstes? Gehst du dein E-Mail-Postfach durch oder arbeitest du sofort an deinem wichtigsten Projekt? Deine Wahl zeigt dir, ob du vor allem die Erwartungen anderer erfüllen oder selbst Akzente setzen willst.

Was machst du als erstes, wenn du nach der Arbeit nach Hause kommst? Checkst du die Börsennachrichten und die sozialen Netzwerke oder nimmst du dir Zeit für Frau und Kinder? Das Ergebnis spricht für sich.

Noch fruchtbarer ist es, die Motive für besonders wichtige Entscheidungen zu reflektieren. Warum trennen wir uns von einem Partner und entscheiden uns für einen anderen? Was lässt uns diese oder jene Position in der Öffentlichkeit beziehen? Wieso haben wir uns für diesen Job entschieden? Warum leben wir in dieser Stadt?

Doch ist es nicht egoistisch, herausfinden zu wollen, was uns selbst wichtig ist? Wo bleiben dabei die Mitmenschen, die Gesellschaft, das Vaterland, die Um-Welt? Die Befürchtung, die hinter diesen Einwänden/Fragen steht, ist: Wenn jeder nur oder zuerst an sich selbst denkt, leidet das Zusammenleben. Doch schließt sich beides überhaupt aus?

Ist es nicht so, dass man beim Nachdenken über das wirklich Wichtige oft zu dem Ergebnis kommt, dass Werte wie Frieden, Gerechtigkeit oder Freundschaft dazugehören? Dass wir nur dann glücklich sein können, wenn es anderen auch gut geht? Sicher, von Mensch zu Mensch in verschiedener Ausprägung, doch gibt es wohl nur wenige, denen es ausschließlich um sich selbst geht. Genauso gibt es wohl nur wenige, denen es ausschließlich um das Wohl anderer geht.

Und wenn man nun mit dem Ergebnis des Nachdenkens nicht zufrieden ist? Wenn man sich eingesteht, wie wichtig Erfolg, Geld, Macht oder Ruhm tatsächlich sind, man dies aber ändern möchte? Kann ein solcher Wertewandel gelingen?

(Wie) Kann ich ändern, was mir wichtig ist?

Du möchtest Likes, Followern und sonstigen Zeichen von Anerkennung weniger Gewicht beimessen?
Du möchtest mehr wagen und mutiger sein anstatt dich immer erst abzusichern?
Du möchtest dich besser auf das fokussieren können, was wirklich zählt? Willst dich weniger ablenken und zerstreuen lassen?

Ob man seine Prioritäten ändern kann, hängt einesteils davon ab, warum man dies erreichen möchte. Steht dahinter der Wunsch, etwa einer ethischen Norm oder den Erwartungen anderer zu entsprechen, dürfte es schwer fallen. Wider die eigene Natur zu handeln kostet Kraft. Die menschlichen Anlagen sind nun einmal verschieden verteilt. Ein Mensch liebt den Wettbewerb und stürmt gern voran, der andere ist sozial und emphatisch und hält sich gern im Hintergrund. Die eine strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit, der andere braucht mehr Sicherheit. Stehen hinter dem Wunsch nach Veränderung Einsicht, eigene Erfahrungen und Erlebnisse, dürfte das Vorhaben leichter gelingen.

Schließlich gilt auch hier wie so oft: Auf das richtige Maß kommt es an. Einzelnen Werten oder Zielen übersteigerte oder exklusive Bedeutung gegenüber allen anderen beizumessen und sie zum alleinigen Lebensinhalt zu machen, führt selten zu Zufriedenheit. Dagegen, mit Augenmaß auch nach Anerkennung oder finanzieller Sicherheit zu streben, ist nichts einzuwänden.

Es ist leichter zu erkennen, was andere antreibt, als zu verstehen, was dich selbst motiviert.
Achtsamkeit und Ehrlichkeit zu dir selbst sind Mittel erster Wahl auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Darüber nachzudenken, was dir wirklich wichtig ist, gehört dauerhaft in die Wiedervorlage. Dein Lohn: Das Glücksgefühl, eine tiefe Übereinstimmung zwischen Wollen und Tun zu empfinden.

Wem kannst du heute eine Freude bereiten?

Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tag eine Freude machen könne.

Friedrich Nietzsche

Sich selbst verbessern, zufrieden sein, Nein sagen können – all das ist für die Kunst zu leben wichtig. Mit sich selbst gut auszukommen ist zweifellos erforderlich, um glücklich zu sein. Wir sind jedoch nicht allein auf der Welt.

Als Kinder sind wir das Ergebnis menschlicher Beziehungen, in die wir hineingeboren werden – meistens jedenfalls. Selbst wenn sich die Wege der Eltern nach unserer Geburt wieder trennen, bleibt etwas in uns zeitlebens mit ihnen in Verbindung. Oft wachsen wir mit Großeltern und Geschwistern auf. Später kommen Gleichaltrige in Kindergarten und Schule, Freunde, Kollegen, Geschäftspartner, Mannschaftskameraden, Kommilitonen, Arbeitgeber, Verkäufer, Kunden und viele andere dazu. Selbst zu flüchtigen Bekanntschaften und wildfremden Menschen spüren wir mitunter innere Verbundenheit. Die Frage, wie wir besser leben können, ist deshalb mit dem Blick auf uns selbst allein nicht zu beantworten. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auch auf die Beziehungen zu unseren Mitmenschen richten.

Zur Bedeutung von Beziehungen

Gespannte Verhältnisse, gegenseitiges Misstrauen und erst recht Feindschaft machen uns das Leben schwer. Der Ehekrach, Streitigkeiten zwischen Eltern und Kindern oder Mobbing unter Kollegen stiften Unzufriedenheit und können gar Ursachen von Krankheit sein. Freundschaft, Partnerschaft und Kollegialität spenden demgegenüber Freude und inneren Frieden.

Ich behaupte damit nicht, dass Unstimmigkeiten immer vermeidbar sind oder gar um jeden Preis verhindert werden sollten. Da wir Einzelwesen mit unterschiedlichen Interessen, Einstellungen, Prioritäten, Vorlieben und Temperamenten sind, können Konflikte gar nicht ausbleiben. Das gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Die zugrundeliegenden Differenzen „um des lieben Frieden willens“ zuzudecken, mag kurzfristig helfen, schadet langfristig jedoch jeder Beziehung.

Aus Unterschiedlichkeit erwachsener Streit kann nützlich sein, wenn durch ihn die beste Lösung für ein Problem gefunden wird oder wenn die Beteiligten und die Beziehung daran wachsen. Ein Beispiel dafür sind – gleichwohl eher seltene – sachlich argumentative Auseinandersetzungen zu politischen Fragen, in denen die eigene Position infolge der Infragestellung durch eine abweichende Meinung bestätigt, differenziert oder gar revidiert wird.

Hinzu kommt ein weiterer Wert zwischenmenschlicher Beziehungen: Sie dienen als Quelle gegenseitiger Hilfeleistung in schwierigen Situationen, zum Beispiel bei Krankheiten des Körpers oder der Seele sowie in materiellen Notlagen. Auch für das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels, und sei es auch nur in einem „Bündnis auf Zeit“, bieten sie Unterstützung.

Angesichts der Bedeutung von Beziehungen für unser Wohlbefinden können wir nicht oft und intensiv genug über sie nachdenken. Bei Konflikten ergibt sich dies von selbst. Wenn es um deren Lösung bzw. um die Frage des richtigen Umgangs damit geht, haben wir die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Wir kappen die Beziehung, wir ertragen und akzeptieren den Konflikt oder wir bemühen uns um Verbesserung. Für Letzteres sind Freundlichkeiten die erste Wahl. Doch selbst intakte Beziehungen wollen gepflegt sein und dies nicht nur, um im Falle der Not darauf zurückgreifen zu können. Kleine Geschenke erhalten nicht nur die Freundschaft, sondern verbessern sowohl die Beziehungen zu unseren Mitmenschen als auch uns selbst.

Freude schenken

Wer anderen eine Freude bereitet, macht sich selbst glücklich. Freude zu schenken ist deshalb niemals ein Verlustgeschäft.

Bei einem schwierigen oder angespannten Verhältnis verhindern Gefälligkeiten möglicherweise die Eskalation zur Konfrontation, die nur noch Freund und Feind kennt.

Die Neurowissenschaft weiß um das unterschiedliche Gewicht emotional negativer und emotional positiver Interaktionen. Um emotional negative Interaktionen zu neutralisieren bedarf es eines Vielfachen an emotional positiver Interaktion. Ein böses Wort zählt mehr als viele Liebenswürdigkeiten, weshalb es von letzteren niemals genug geben kann.

Der Möglichkeiten gibt es viele, und Außergewöhnlichkeit bedarf es nicht:
Blumen für die Ehefrau, Geburtstagsgrüße, sich bei den Freunden oder Eltern melden, an einen Bedürftigen spenden oder ihm Hilfe anbieten, nach einer kranken Kollegin erkundigen, den Kindern einen Wunsch erfüllen oder sich Zeit für sie nehmen.

Doch soll ich auch der egoistischen Kollegin oder dem cholerischen Chef eine Freude machen? Wenn ich mit ihr oder ihm auskommen muss und nicht aus dem Weg gehen kann, ja. Und wenn sie es nicht wertschätzen, sondern es als selbstverständlich oder als Unterwerfungsgeste ansehen? Dann sollte man nicht sogleich die Flinte ins Korn werfen. Steter Tropfen höhlt manchen Stein. Solange man sich nicht ausgenutzt fühlt und die Selbstachtung leidet, ist es gut. Freilich bieten Gefälligkeiten keine Gewähr, dass es nicht trotzdem zur Verschärfung und am Ende zum Zerwürfnis kommt.

Doch jeder Versuch ist es wert, denn wer anderen hilft oder eine Freude macht, der hilft stets auch sich selbst.

Sei freundlich, höflich und hilfsbereit

Eine Grundschullehrerin beschrieb meine jüngste Tochter in einem Elterngespräch einst mit folgenden drei Eigenschaften: Sie sei freundlich, höflich und hilfsbereit. Diese zutreffende Charakterisierung berührte mich in ihrer Schlichtheit und Prägnanz. Ich schrieb die drei Worte auf einen kleinen gelben Notizzettel und pinnte ihn an meinen Büromonitor. Auf diese Weise wollte ich mich dazu ermahnen, den drei Verhaltensweisen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel bei Telefonaten, bei der E-Mail-Korrespondenz oder bei Besprechungen.

Es fällt mir nämlich manchmal schwer, freundlich zu sein, wenn ich selbst unzufrieden bin, zum Beispiel weil ich mich über andere oder über mich selbst ärgere. Manchmal leidet Höflichkeit unter Eile oder unter Unachtsamkeit. Doch nicht nur im Büro, auch im Alltag oder im Familienkreis gibt es Situationen, in denen es gut ist, die Maxime in Erinnerung zu rufen.

Eine simple Regel – aber nicht einfach

Es ist eine einfache und leicht verständliche Regel, jeder weiß etwas damit anzufangen. Die meisten dürften ihr im Großen und Ganzen zustimmen, weil der Umgang mit Menschen solcher Wesensart angenehm ist und weil eine größere Verbreitung dieser Eigenschaften nach allgemeinem Dafürhalten das Leben mit den Mitmenschen erfreulicher macht. Je mehr die Maxime beherzigt würde, so die Annahme, desto harmonischer verliefe das Miteinander und desto zufriedener wären die Einzelnen. Freundlichkeit kann Zorn besänftigen, uneigennützige Hilfe bereitet selbst dem Helfenden Freude und Höflichkeit „ist eine Art Hexerei, welche die Gunst Aller erobert“. (Baltasar Gracián)

Aber natürlich, ganz so einfach ist es nicht. Oft haben wir es mit Menschen zu tun, die unhöflich und egoistisch oder sogar feindlich gesinnt sind. Zwar wird kaum jemand behaupten, man solle sich deswegen wie ein Rüpel benehmen, aber wer die Maxime beherzigt, gilt oft als ein bisschen naiv, als jemand, der leicht übertölpelt werden kann. Ist nicht der Freundliche und Hilfsbereite tatsächlich oft der Dumme, weil er „übers Ohr gehauen“, also ausgenutzt wird?

Grenzen der Hilfsbereitschaft

Die Gefahr besteht, insbesondere für jene von freundlichem oder warmherzigem Gemüt, denen es schwerfällt Nein zu sagen. Um ihr zu entgehen, sollten sie sich über Folgendes klar werden: Zur Hilfe bereit zu sein, bedeutet nicht, für andere die Arbeit zu tun, die diese selbst erledigen können und sollen, sondern tatsächlich Bedürftigen behilflich zu sein. Hilfsbereitschaft heißt nicht, anderen Anstrengungen zu ersparen, die jene selbst aufbringen können. Doch selbst eingedenk dieser Klarstellung kann Hilfsbereitschaft ausgenutzt werden, indem zum Beispiel Hilfsbedürftigkeit vorgetäuscht wird.

Auch beruht Hilfsbereitschaft bis zu einem gewissen Grade auf Gegenseitigkeit. Stets das Geschirr der Kollegen mit abzuwaschen, die selbst nie abwaschen, hat wenig damit zu tun, es sei denn, von deren Seite findet eine Kompensation an anderer Stelle statt. Für die Chefin, die sich durch Aufmerksamkeit, Einfühlung und Einsatz für ihre Kollegen auszeichnet, vielleicht auch mal das gesamte Team auf eigene Kosten zum Essen einlädt, wäscht man gern mit ab. Wenn die Mitschülerin, der ich bei der Deutsch-Aufgabe geholfen habe, mir bei der Lösung der Mathematik-Aufgaben nicht beistehen will, muss ich ihr beim nächsten Mal, wenn sie mich um Unterstützung fragt, nicht mehr behilflich sein.

Etwas anders verhält es sich mit Freundlichkeit und Höflichkeit. Was ist mit dem Muffel, der nie von sich aus grüßt, oder mit der missmutigen Verkäuferin, die mit der Kollegin redet, während ich als Kunde vor ihr stehe? Soll ich mich darüber empören? Dies fruchtet in der Regel wenig. Sollte ich solche Unfreundlichkeit „mit gleicher Münze heimzahlen“? Damit verschärft man die Situation meistens nur und tut sich selbst keinen Gefallen damit.

Freundlich und höflich bleiben

Es bleiben zwei Möglichkeiten: Man findet sich entweder ab und erträgt das Gebaren kommentarlos. Man bekämpft den innerlich aufsteigenden Ärger, indem man selbst ausgesucht, aber nicht übertrieben, freundlich und höflich bleibt. Dem Miesepeter hält man ein unüberhörbares „Guten Morgen!“ entgegen, der Verkäuferin ein „Ich möchte bitte etwas bestellen.“ Oder aber man meidet die Unhöflichen, indem man das Feld räumt: Man kauft eben nichts ein, oder man verlässt das Restaurant, in dem man vom Kellner ignoriert wird.

Doch soll man sich alles bieten, soll man sich gar beschimpfen lassen? Sollen wir uns gegen Unverschämtheit nicht zur Wehr setzen dürfen? „Wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“, lässt William Shakespeare im „Kaufmann von Venedig“ fragen. Wenn ein Kollege mich bei meinem Vorgesetzten oder gegenüber Journalisten verleumdet – soll ich ihm gegenüber freundlich bleiben? Wenn man mich warten lässt, mein Antrag nicht bearbeitet wird, eine Antwort zurückbehält, und dies alles allein um Macht zu demonstrieren, soll ich freundlich bleiben? Soll ich freundlich bleiben, wenn Nutzer mich über Twitter diffamieren? Ist es nicht schädlicher, den Ärger aus Freundlichkeit „in sich hineinzufressen“?

Dies alles sind gleichermaßen nachvollziehbare wie berechtigte Einwände. Manchmal muss man wohl zu rabiaten Methoden greifen, um dem Grobian Grenzen zu setzen. Und nicht gegen jedermann muss man in derselben Weise höflich sein. Unverschämtheit mit Unhöflichkeit zu vergelten, kann uns kurzfristig auch mit Genugtuung erfüllen, „Rache ist süß.“

Grundsätzlich jedoch sollte man sich mit jenen nicht gemein machen, die die Sprache des guten Benehmens nicht verstehen. Die eigene Seele kann daran Schaden, der innere Frieden gestört werden. Und wenn der Konflikt durch die eigene Reaktion eskaliert, ist wenig gewonnen. Dagegen könnte Freundlichkeit den Unhöflichen besänftigen.

Fazit

Gegenüber dem Grobian freundlich und höflich zu bleiben ist schwieriger als ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, doch gerade deshalb wächst du daran. Nicht zuletzt stärkt es deine Würde und Selbstachtung. Versuche Grenzen zu setzen, ohne selbst unhöflich zu sein. Aber mache dich dabei nicht zum Trottel. Erwehre dich deiner Haut, wenn es Not tut, doch ohne Zorn und mit Stil. Meide, wo immer es geht, den Umgang mit Flegeln. Das Sicherste ist, sich von ihnen entfernt zu halten und nicht mit ihnen aneinander zu geraten.

Erst das Wichtigste, dann alles andere

… ein großer Teil des Lebens entgleitet den Menschen, wenn sie Schlechtes tun, der größte, wenn sie nichts tun, das ganze Leben, wenn sie Nebensächliches tun.

Seneca, Briefe an Lucilius 1, 1

Dies ist eine der wichtigsten Lebensregeln überhaupt: Erledige zunächst alle wesentlichen Pflichten und kümmere dich dann um den Rest.

Doch was sind die wichtigsten Aufgaben und wie erkennt man sie? Darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen. Nur so viel sei hier gesagt: Natürlich muss zunächst die Erfüllung der existenziellen Grundbedürfnisse – nicht zu hungern, nicht zu dürsten und nicht zu frieren – gewährleistet werden. Das danach Wichtigste hängt von unseren persönlichen Lebenszielen ab, davon, welchen Sinn man seinem Leben gibt, wofür man auf der Welt zu sein glaubt. Für den einen ist es Gesundheit, für den anderen sind es gelungene Beziehungen. Einer strebt nach materiellem Wohlstand, ein Zweiter nach Zufriedenheit und Seelenruhe, ein Dritter nach Ruhm und Ehre – „das Wichtigste“ ist von Mensch zu Mensch verschieden. „Alles andere“ sind sämtliche Aktivitäten, die nicht unmittelbar oder indirekt mit den eigenen Lebenszielen in Verbindung stehen.

Die Maxime befolgen kann nur, wer sich über seine Lebensziele im Klaren ist. Viele Menschen wissen es nicht. Gehörst du auch dazu? Dann finde zunächst heraus, was dir wirklich wichtig ist.

Nicht nur antike Philosophen, auch erfolgreiche Unternehmer und Motivationstrainer halten es für bedeutsam, dem Wichtigsten Vorrang vor allem anderen einzuräumen. In den Worten des Investors Charlie Munger: „I just concentrate on the priority, and do nothing much else.“ Doch warum ist es so wichtig, der Hauptsache seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken?

Unsere Ressourcen sind begrenzt

Das betrifft zum einen unsere Lebenszeit, sie ist beschränkt. Aber auch physische und mentale Energie erschöpft sich. Wenn wir über unendliche Zeit und unlimitierte Ressourcen verfügten, fiele es nicht ins Gewicht, wenn wir diese „nach dem Gießkannenprinzip“ verteilten oder einen Großteil davon vertrödeln würden.

Hinzu kommt: Wir müssen Zeit und Ressourcen sowohl für unsere existenziellen Bedürfnisse als auch für unsere Verpflichtungen gegenüber Mitmenschen aufwenden, die uns für die Verwirklichung unserer Lebensziele nicht zur Verfügung stehen.

Schließlich erfordern viele unserer Lebensziele unsere ganze Kraft, zum Beispiel wenn wir anstreben, der oder die Beste auf einem speziellen Gebiet zu sein.

Doch wenn wir uns nun angesichts der unendlichen Möglichkeiten nicht entscheiden können oder wollen, welcher wir uns bevorzugt widmen, was dann?

Ein russisches Sprichwort sagt dazu: „Wer zwei Hasen hinterherjagt, wird keinen von beiden fangen.“ Das heißt: Wir stehen buchstäblich mit leeren Händen da. Wir haben uns umsonst angestrengt, haben unsere begrenzten Ressourcen ergebnislos eingesetzt. Unzufriedenheit stellt sich ein. Dagegen steigen die Chancen, sein Hauptziel zu erreichen, und mindestens einen Hasen zu fangen, rapide, wenn wir uns konzentrieren. So sehr das einleuchtet, so schwer fällt es uns, die Lebensregel zu praktizieren, warum?

Hindernisse

Vielleicht macht es uns gelassener zu wissen, dass auch herausragende und erfolgreiche Persönlichkeiten ihre liebe Müh‘ und Not eingestanden. So soll Goethe geklagt haben, gegenüber der Fähigkeit, die Arbeit eines einzigen Tages sinnvoll zu ordnen, sei alles andere im Leben ein Kinderspiel. Prioritäten setzen klingt einfach, ist aber schwer zu machen.

Die erste und größte Hürde: Wir sind uns über das, was uns am Wichtigsten ist, nicht im Klaren. Wir zu wollen zu viele Dinge gleichzeitig, zu viele Möglichkeiten stehen uns offen, aus denen wir auswählen müssen.

Zweitens: Es ist leicht zu träumen, aber schwer seine Ziele zu erreichen. Denn es kostet uns nicht selten Selbstdisziplin und Selbstüberwindung. Wir können uns nicht verbessern und weiterentwickeln, ohne uns anzustrengen, auch wenn uns dies bei den Dingen, für die wir „brennen“ leichter fallen mag. Wir fliehen vor dieser Anstrengung in Zerstreuung, Ablenkung und Nebensächliches: Serien, soziale Medien, Computerspiele …

Drittens: Wir leben nicht allein auf der Welt, sondern in Gemeinschaften und in sozialen Beziehungen. Wir haben damit Verpflichtungen gegenüber unserer Familie, unseren Freunden oder unseren Kollegen. Es kommt vor, dass diese mit dem, was uns persönlich gerade am Wichtigsten ist, kollidieren. Nur wenn es für uns das Wichtigste ist, dass es anderen gut geht, ist das kein Problem, doch das ist selten.

Wenn wir herausgefunden haben, was uns wirklich wichtig ist, wie gelingt es uns dann, dem Vorrang vor allem anderen einzuräumen?

Wenn Du fokussierter sein willst, sei fokussierter

Das bedeutet: Es gibt kein Geheimrezept dafür, wie Du am besten Prioritäten setzt, Du musst es einfach tun.

Du willst Deine Fitness verbessern? Beginne den Tag mit Sport.
Du möchtest gelassener werden? Meditiere oder gehe spazieren.
Du wünscht Dir, ein besserer Autor zu sein? Schreibe, schreibe, schreibe.
Du strebst an, auf Deinem Instrument schwierigere Stücke zu spielen? Starte damit.
Es ist Dein Ziel, auf einem Gebiet zum Experten zu werden? Lese alles darüber, probiere aus, fange jeden Tag damit an.

Um ein Wort über mich selbst zu sagen: Ich schreibe jeden Morgen meine „Pflicht des Tages“ in mein Morgenjournal und nehme diese als erstes sofort in Angriff. Die zwei bis drei anderen Dinge, die mir sehr wichtig sind, versuche ich anzuhängen. Nein, es gelingt nicht immer. Ich bin kein Roboter, der eine To-Do-Liste abarbeitet. Es fällt mir zwar schwer, Zufälligkeit zu ertragen und spontan zu sein, aber ich weiß: Manchmal kann es „das Wichtigste“ sein, vom Pfad abzuweichen. Manchmal ist es wirklich wichtig, nichts zu tun.

Trotzdem, in der Regel versuche ich, immer wieder innezuhalten und mich zu fragen, was im Weiteren das Wichtigste ist. Wenn ich auf diese Weise durch den Tag gehe, bleibt am Ende kaum Spielraum für die „Motten der kostbaren Zeit“ (Baltasar Gracián). Außerdem macht es mich gelassener und zufriedener. Ich weiß: Egal, was an diesem Tag noch kommen mag – Das Wichtigste habe ich schon erledigt.

Lerne Nein sagen

Der Unterschied zwischen erfolgreichen Leuten und wirklich erfolgreichen Leuten besteht darin, dass wirklich erfolgreiche Leute zu fast allem Nein sagen.
Warren Buffett

Die Fähigkeit Nein zu sagen gilt nicht nur als Bedingung für die Freiheit des Einzelnen, sondern nach den Worten des berühmten Investors auch als wichtige Voraussetzung für persönlichen Erfolg und für außergewöhnliche Leistungen. Doch ist dem tatsächlich so? Wozu sollte man Nein sagen können?

Soll der Soldat zu dem ihm erteilten Befehl Nein sagen? Er würde vermutlich auch das letzte Stückchen Freiheit, die ihm nach seinem Eintritt in die Armee noch verblieben ist, verlieren. Soll der Mitarbeiter Nein zur Erfüllung der Aufgabe sagen, die ihm von seiner Vorgesetzten übertragen worden ist? Das würde wohl kaum seinen beruflichen Erfolg, seine Karriere befördern. Soll man etwa Nein sagen, wenn Freunde oder Kollegen um Unterstützung bitten? Wenn sie der Hilfe tatsächlich bedürfen und mich nicht ausnutzen wollen, sicher nicht. Müssen wir Nein sagen, wenn wir etwas tun sollen, das nicht unsere Werten oder Überzeugungen entspricht? Selbstverständlich. Doch auch darum geht es in diesem Zusammenhang nicht. An wen und an welche Situationen also haben wohl Buffett und andere Fürsprecher des Nein-Sagens gedacht?

Es geht ihnen um an uns herangetragene Erwartungen, Wünsche oder Forderungen, deren Erfüllung jedoch nicht uns – etwa als Soldat oder Mitarbeiter – obliegen, sondern zuvörderst Aufgabe des Anfragenden, zum Beispiel eines Kollegen sind. Wir sagen zu oft vorschnell Ja zu vielen Dingen, die wir eigentlich gar nicht tun wollen. Anschließend bereuen wir dies und klagen über die in überflüssigen Sitzungen vergeudete Zeit, über einen vollen Terminkalender oder über eine endlose To-do-Liste. Doch sind dies nur die oberflächlich sichtbaren Kosten, die das unüberlegte Ja mit sich bringt.

Die Problematik nicht Nein sagen zu können

Der Blogger und Buchautor James Clear bringt den Unterschied zwischen Ja und Nein so auf den Punkt: „Nein ist eine Entscheidung. Ja ist eine Pflicht.“ („No is a decision. Yes is a responsibility.“) Zwar erfordert auch das Ja eine Entscheidung, Clear meint aber Folgendes: Wenn wir zu oft Ja sagen, wachsen uns die Verpflichtungen bzw. Aufgaben, die wir damit übernommen haben, über den Kopf. Dies tut uns auf Dauer nicht gut und kann in chronischer Erschöpfung enden. Wir leben dann unser Leben für andere.

Doch halt, was ist daran schlecht? Macht es nicht gerade glücklich, anderen von Nutzen zu sein? Vermittelt es nicht das gute Gefühl, gebraucht zu werden? Gewinnt unser Leben durch Freigebigkeit nicht erst seinen Sinn? Sicherlich, doch noch einmal: Dies gilt nur dann, wenn die Nutznießer unseres Ja‘s tatsächlich unsere Unterstützung benötigen. Das eigene Leben für andere zu opfern, die dieses Opfers nicht bedürfen, ist nicht nur sinnlos, es kostet uns auch unsere Freiheit. „So sehr darf man nicht Allen angehören, daß man nicht mehr sich selber angehörte.“ (Baltasar Gracian) Insofern lässt sich im Hinblick auf unberechtigte Ansprüche auf unsere begrenzte Lebenszeit und unsere Ressourcen sagen: Ja heißt Freiheit aufzugeben. Nein bedeutet Freiheit zu bewahren.

Der größte Vorteil des Nein-Sagen-Könnens besteht darin, das eigene Leben zu leben und nicht das Leben anderer. Die Energie, die Zeit und andere Ressourcen, die wir für unser Tun aufwenden, wie auch dessen Ergebnisse, kommen uns selbst zugute. Wir konzentrieren uns auf die Aufgaben, die das Leben uns selbst gestellt hat. Kurz: Wir haben mehr Zeit für das Wesentliche.

Gibt es Situationen, in denen das Nein wichtiger ist und andere, in denen ein Ja weniger schadet? Gewiss: Wenn es um Entscheidungen darüber geht, mit welchem Partner wir zusammenleben wollen, ob wir gemeinsam Kinder großziehen möchten, welcher Arbeit wir nachgehen und in welcher Stadt wir leben, ist unser Nein von besonderem Gewicht.

Warum fällt das Neinsagen schwer?

Einen Wunsch oder eine Bitte abzuschlagen fällt oft schwer, manch einer spürt eine innere Barriere dagegen. Man möchte nicht egoistisch oder unhöflich erscheinen und fürchtet sich, dass andere den Widerspruch übelnehmen, vielleicht sogar daraufhin die Beziehung abbrechen. Man fühlt sich unter Rechtfertigungsdruck. Das Nein erzeugt zunächst einmal eine gewisse Mißstimmung, die die Kommunikation belastet. Wieviel angenehmer ist es doch, solchen Situationen und Konflikten aus dem Weg zu gehen und als freundlich, nett und hilfsbereit angesehen zu werden.

Bevor man Nein zu einem Anderen sagen kann, muss man Nein zu seinem Bedürfnis nach Anerkennung sagen.

Doch nicht allen fällt das Neinsagen gleichermaßen schwer, die Anlage dazu ist verschieden ausgeprägt. Schon bei Kleinkindern lassen sich bezüglich ihres Widerspruchsgeistes Unterschiede ausmachen. Reaktionen der Erwachsenen verstärken die vorhandenen Anlagen. Das Kind, das die gestellten Forderungen eher bereitwillig erfüllt, gilt als artig, hilfsbereit und gut erzogen – es wird gelobt. Das Kind, das widerspricht, gilt schnell als störrisch, als Querulant, als verzogen – es wird getadelt.

Nun soll damit nicht einer Erziehung das Wort geredet werden, die auf die Durchsetzung jeglicher Regeln verzichtet. Doch das Lob für das artige Kind kann sich auf längere Sicht schädlich auswirken. Machen Kinder wiederholt die Erfahrung, dass sie nur wahrgenommen werden, wenn sie ohne eigene Motivation etwas für andere getan haben, hängt ihr Selbstbewusstsein bald daran. Sie versuchen dann auch in ihrem späteren Leben, allein dadurch Anerkennung zu erhalten.

Ich bin kein geborener Neinsager, und das Aufwachsen in der DDR hat daran wenig geändert. Wer damals Einspruch erhob oder Forderungen infrage stellte, bekam oft Schwierigkeiten. Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und gute Erfüllung meiner Pflichten als Angestellter sind mir wichtig. So kostet mich das Neinsagen auch heute noch meistens Überwindung. Außerdem bin ich ein Stück weit gutgläubig, und wenn mir nur jemand etwas mit gewisser Bestimmtheit erklärt, nahelegt oder souffliert, nehme ich es in der Regel erst einmal für bare Münze. Doch habe ich dafür inzwischen auch Lehrgeld gezahlt und an Lebenserfahrung gewonnen, um den Wert des Neinsagens erkennen zu können. Kann man es erlernen?

Neinsagen lernen

Man kann es üben, im beruflichen Umfeld, in familiären Beziehungen und im sonstigen Alltag und es ist nie zu spät damit anzufangen. Völlig ablegen wird man seine Anlagen aber wohl nicht.

Man höre auf seine innere Stimme und spüre den leisesten Zweifel. Fühlt es sich richtig an? Wird es mir gut tun? Ist die Antwort auf diese Fragen kein klares und sicheres Ja, heißt es Nein.

Man lasse sich nicht überrumpeln und unter Zeitdruck setzen. Man zögere vor jedem Ja und erbitte sich eventuell Bedenkzeit.

Man führe sich die Konsequenzen seiner Zusage vor Augen. Die Zeit, die mit einer eingegangenen Verpflichtung verbunden ist, fehlt für andere, vielleicht wichtigere Dinge. Die persönliche Lebenszeit aber ist das vielleicht wichtigste eigene Vermögen. Es ist einfacher, eine Verpflichtung erst gar nicht einzugehen, als sie später zu erfüllen oder sich von ihr zu lösen.

Es ist nicht unwichtig, wie man Nein sagt. Wenn man kategorisch widerspricht, oder schroff ablehnt, kann das Kommunikation und Beziehung unnötig belasten. Doch dazu muss es nicht kommen. Man versuche, sein Nein zu versüßen, schlage eine Bitte nicht sofort und vollständig ab. Oft reicht es schon, eine Grenze zu ziehen.

Dem Bedürfnis, sein Nein zu begründen, sollte man dagegen nicht zu oft und nicht zu ausführlich nachgeben. Der Gegenüber wittert die sich hinter der Rechtfertigung verbergende Unsicherheit. Man vermeidet, in endlose Diskussionen und Verhandlungen verwickelt zu werden. Nein heißt Nein.