wer andere kennt ist klug
wer sich kennt ist weise
Laozi, 33
Es gibt Menschen, die scheinen genau zu wissen, was sie wollen. Ihr gesamtes Reden und Tun ist von einer einzigen Sache durchdrungen. Manche wenden sehr viel Zeit und Ressourcen für das Studium von Börsenkursen, für sportliches Training oder für die Lektüre von Tageszeitungen auf. Andere sprechen von nichts anderem als von ihren Kontakten zu vermeintlich bedeutenden Personen. Wieder andere genießen es, im Rampenlicht zu stehen und möchten stets den Vorsitz bzw. das Wort führen. Schließlich gibt es jene, die sich in ein wissenschaftliches oder technisches Problem vertiefen und derart besessen an dessen Lösung arbeiten, dass sie Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen vernachlässigen. Ihnen allen gemeinsam ist die Fokussierung auf eine Aktivität bzw. ein Ziel, so verschieden diese auch sein mögen.
Was dem einen besonders wichtig ist, ist für den anderen vollkommen wertlos. Man kann verständnislos den Kopf darüber schütteln, sich davon distanzieren oder den anderen dafür bemitleiden oder gar verachten. Mitunter mag die Fokussierung vielleicht auch doch keine gänzlich bewusste Entscheidung sein. Doch ändert dies nichts daran, dass Erkenntnis des Wesentlichen und Konzentration darauf erstrebenswert sind.
Üblicherweise geben Menschen in Meinungsumfragen auf die Frage, was ihnen besonders wichtig sei, Antworten wie „ein sicherer Arbeitsplatz“, „Umweltschutz“ oder „Freunde“. Dass dem tatsächlich so ist, möchte ich im Folgenden nicht in Frage stellen. Der Schwerpunkt liegt in diesem Artikel jedoch auf Grundwerten unterhalb der Oberfläche, die von der Demoskopie bei solchen Studien selten durchdrungen wird, etwa Streben nach Anerkennung oder Überlegenheit, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder Ziele wie innere Gelassenheit und Fürsorge für andere.
So leicht es oft fällt, diese Motive bei anderen zu erkennen, wenn man sie nur lange und gründlich genug beobachtet, so wenig Klarheit herrscht diesbezüglich bei uns selbst. Doch diese Unklarheit ist ein Problem.
Problematische Unklarheit über die eigenen Grundwerte und Ziele
Heutzutage gibt es Vieles, das erstrebenswert ist oder als wünschenswert gilt, doch die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen an Lebenszeit und –energie sind begrenzt. Deshalb bedeutet ihr Einsatz für das eine zugleich Verzicht auf anderes. Wenn wir hart, und das heißt: nahezu ausschließlich, für die Karriere im Beruf arbeiten, bleibt weniger Zeit für die Partnerin, die Kinder und Freunde oder für gesundheitsfördernde Körperertüchtigung.
Diejenigen, denen beruflicher Erfolg über alles geht, nehmen diese Nachteile zumindest für eine gewisse Zeit in Kauf. Später stellen sie mitunter fest, dass ihnen andere, hierdurch vernachlässigte Dinge gleichermaßen wichtig oder bedeutsamer sind. Gleichzeitig steht fest, dass man das Ziel, zu den Besten in seinem Job, in einer sportlichen Disziplin oder in der wissenschaftlichen Forschung zu gehören, nur erreicht, wenn man nahezu sämtliche eigene Ressourcen darauf konzentriert. Überlegenheit bedarf mehr der Tiefe als der Breite. Zudem ist eine solche Fokussierung allemal besser, als zum Spielball der Interessen anderer zu werden, weil man sich über die eigenen nicht klar genug ist.
Eine andere Frage ist, ob wir tatsächlich glücklicher sind, wenn wir diese Klarheit über unsere Ziele und Antriebskräfte besitzen. Sind diejenigen, die in den Tag leben, sich der Zerstreuung hingeben und keinen Gedanken daran verschwenden, nicht oft zufriedener? Wie kann es nützlich sein, wenn uns das Grübeln zur Qual wird? Warum fällt es uns oft schwer zu erkennen was uns wirklich wichtig ist? Ein Teil der Antwort versteckt sich im Wörtchen „wirklich“.
Schwierigkeiten
Auch wenn wir uns dessen bewusst sind, wie wichtig es ist, sich über die eigenen Grundwerte klar zu werden, so fällt uns dies nicht immer leicht. Oft werden sie von dem verdeckt, was uns in unserer Kindheit „eingeimpft“ worden ist. In meiner Schulzeit ging es beispielsweise nicht darum, herauszufinden was mir wichtig ist, sondern welchen Beitrag ich für den Sozialismus, den Frieden oder das Land leisten konnte. Heute leiden junge Mädchen, weil ihr Körper nicht dem Ideal entspricht, das Medien und Werbung vermitteln. Meine erwachsene Tochter sagte mir, sie habe sich als Kind oft von meiner Erwartung, sich anstrengen zu müssen, unter Druck gesetzt gefühlt.
Doch was kann daran schlecht sein, wenn wir als Eltern unseren Kindern eigene Lebenserfahrungen oder Grundsätze „mit auf den Weg geben“ wollen? Dagegen ist an sich nichts zu sagen, doch schießen wir manchmal über das Ziel hinaus. Selbst Vorbild sein und Überzeugungsarbeit leisten sind jedenfalls erfolgversprechender als gut gemeinter Druck oder gar Zwang. Was gut oder schlecht für unsere Kinder ist, was sie anstreben oder vermeiden sollten, können sie letztlich nur selbst für sich herausfinden. Wir sollten es unseren Eltern nicht allzu sehr verübeln, dass sie „doch nur das Beste“ für uns wollten und bei unseren Kindern müssen wir uns damit abfinden, wenn sie andere Prioritäten setzen als wir vielleicht erhofft haben.
Die eigenen Antriebskräfte zu erkennen, fällt aber nicht nur deshalb schwer, weil wir uns davon lösen müssen, was andere uns als erstrebenswert vermittelt haben. Hinzu kommt, dass dies Ehrlichkeit zu uns selbst erfordert. Sich nicht nur mit oberflächlichen, allgemein akzeptierten und anerkannten Antworten zufrieden zu geben, sondern dabei verborgene weniger sozial erwünschte Motive freizulegen und sich einzugestehen, erfordert Mut. So verbirgt sich hinter Engagement in der Politik, in Medien oder in der Wissenschaft nicht selten ein Bedürfnis nach Anerkennung und Ansehen. Schon den antiken Philosophen, die predigten, dem Ruhm zu entsagen, wurde zu Recht vorgehalten, damit letztlich nur öffentlich glänzen oder Aufmerksamkeit erzeugen zu wollen.
Die eigenen Grundwerte erkennen
Drei Dinge können bei der Selbsterkenntnis helfen: Achtsam sein, es aufschreiben, sich immer wieder Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Der Verhaltenstherapeut Jens Corssen meint dazu: „Man beobachtet sich über längere Zeit, um herauszufinden, was einen wirklich interessiert. Wo und wann klopft mein Herz? Was macht mir Freude, wo bleibe ich ohne Zwang dabei?“
Unsere Grundwerte kommen weniger im Reden, mehr in unseren Entscheidungen und im konkreten Tun zum Ausdruck. Um sie zu erkennen, müssen wir daher unser Handeln und die ihm vorausgegangenen Entscheidungen unter die Lupe nehmen.
Wir können zwischen alltäglichen, oft scheinbar weniger bedeutsamen Entscheidungen sowie besonders wichtigen Entscheidungen unterscheiden. Beide Formen geben Auskunft darüber, was für uns letztlich zählt. Jede Entscheidung ist eine Weggabelung, an der wir die weitere Richtung unseres Weges bestimmen. Jede Antwort spiegelt, was uns wirklich wichtig ist. Zunächst zu den kleinen, aber nicht unwichtigen Entscheidungen.
Was isst du zum Frühstück? Marmeladenbrötchen, Haferbrei oder grünen Salat mit Ei? Süß, salzig und fettig oder nährstoffreich? Oder lässt du das Frühstück bewusst ausfallen? Die Wahl sagt einiges darüber aus, wie wichtig dir deine Gesundheit ist.
Im Büro angekommen – fuhrst du mit dem Rad oder mit dem Auto dorthin? – was machst du als erstes? Gehst du dein E-Mail-Postfach durch oder arbeitest du sofort an deinem wichtigsten Projekt? Deine Wahl zeigt dir, ob du vor allem die Erwartungen anderer erfüllen oder selbst Akzente setzen willst.
Was machst du als erstes, wenn du nach der Arbeit nach Hause kommst? Checkst du die Börsennachrichten und die sozialen Netzwerke oder nimmst du dir Zeit für Frau und Kinder? Das Ergebnis spricht für sich.
Noch fruchtbarer ist es, die Motive für besonders wichtige Entscheidungen zu reflektieren. Warum trennen wir uns von einem Partner und entscheiden uns für einen anderen? Was lässt uns diese oder jene Position in der Öffentlichkeit beziehen? Wieso haben wir uns für diesen Job entschieden? Warum leben wir in dieser Stadt?
Doch ist es nicht egoistisch, herausfinden zu wollen, was uns selbst wichtig ist? Wo bleiben dabei die Mitmenschen, die Gesellschaft, das Vaterland, die Um-Welt? Die Befürchtung, die hinter diesen Einwänden/Fragen steht, ist: Wenn jeder nur oder zuerst an sich selbst denkt, leidet das Zusammenleben. Doch schließt sich beides überhaupt aus?
Ist es nicht so, dass man beim Nachdenken über das wirklich Wichtige oft zu dem Ergebnis kommt, dass Werte wie Frieden, Gerechtigkeit oder Freundschaft dazugehören? Dass wir nur dann glücklich sein können, wenn es anderen auch gut geht? Sicher, von Mensch zu Mensch in verschiedener Ausprägung, doch gibt es wohl nur wenige, denen es ausschließlich um sich selbst geht. Genauso gibt es wohl nur wenige, denen es ausschließlich um das Wohl anderer geht.
Und wenn man nun mit dem Ergebnis des Nachdenkens nicht zufrieden ist? Wenn man sich eingesteht, wie wichtig Erfolg, Geld, Macht oder Ruhm tatsächlich sind, man dies aber ändern möchte? Kann ein solcher Wertewandel gelingen?
(Wie) Kann ich ändern, was mir wichtig ist?
Du möchtest Likes, Followern und sonstigen Zeichen von Anerkennung weniger Gewicht beimessen?
Du möchtest mehr wagen und mutiger sein anstatt dich immer erst abzusichern?
Du möchtest dich besser auf das fokussieren können, was wirklich zählt? Willst dich weniger ablenken und zerstreuen lassen?
Ob man seine Prioritäten ändern kann, hängt einesteils davon ab, warum man dies erreichen möchte. Steht dahinter der Wunsch, etwa einer ethischen Norm oder den Erwartungen anderer zu entsprechen, dürfte es schwer fallen. Wider die eigene Natur zu handeln kostet Kraft. Die menschlichen Anlagen sind nun einmal verschieden verteilt. Ein Mensch liebt den Wettbewerb und stürmt gern voran, der andere ist sozial und emphatisch und hält sich gern im Hintergrund. Die eine strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit, der andere braucht mehr Sicherheit. Stehen hinter dem Wunsch nach Veränderung Einsicht, eigene Erfahrungen und Erlebnisse, dürfte das Vorhaben leichter gelingen.
Schließlich gilt auch hier wie so oft: Auf das richtige Maß kommt es an. Einzelnen Werten oder Zielen übersteigerte oder exklusive Bedeutung gegenüber allen anderen beizumessen und sie zum alleinigen Lebensinhalt zu machen, führt selten zu Zufriedenheit. Dagegen, mit Augenmaß auch nach Anerkennung oder finanzieller Sicherheit zu streben, ist nichts einzuwänden.
Es ist leichter zu erkennen, was andere antreibt, als zu verstehen, was dich selbst motiviert.
Achtsamkeit und Ehrlichkeit zu dir selbst sind Mittel erster Wahl auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Darüber nachzudenken, was dir wirklich wichtig ist, gehört dauerhaft in die Wiedervorlage. Dein Lohn: Das Glücksgefühl, eine tiefe Übereinstimmung zwischen Wollen und Tun zu empfinden.