Sei freundlich, höflich und hilfsbereit

Eine Grundschullehrerin beschrieb meine jüngste Tochter in einem Elterngespräch einst mit folgenden drei Eigenschaften: Sie sei freundlich, höflich und hilfsbereit. Diese zutreffende Charakterisierung berührte mich in ihrer Schlichtheit und Prägnanz. Ich schrieb die drei Worte auf einen kleinen gelben Notizzettel und pinnte ihn an meinen Büromonitor. Auf diese Weise wollte ich mich dazu ermahnen, den drei Verhaltensweisen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel bei Telefonaten, bei der E-Mail-Korrespondenz oder bei Besprechungen.

Es fällt mir nämlich manchmal schwer, freundlich zu sein, wenn ich selbst unzufrieden bin, zum Beispiel weil ich mich über andere oder über mich selbst ärgere. Manchmal leidet Höflichkeit unter Eile oder unter Unachtsamkeit. Doch nicht nur im Büro, auch im Alltag oder im Familienkreis gibt es Situationen, in denen es gut ist, die Maxime in Erinnerung zu rufen.

Eine simple Regel – aber nicht einfach

Es ist eine einfache und leicht verständliche Regel, jeder weiß etwas damit anzufangen. Die meisten dürften ihr im Großen und Ganzen zustimmen, weil der Umgang mit Menschen solcher Wesensart angenehm ist und weil eine größere Verbreitung dieser Eigenschaften nach allgemeinem Dafürhalten das Leben mit den Mitmenschen erfreulicher macht. Je mehr die Maxime beherzigt würde, so die Annahme, desto harmonischer verliefe das Miteinander und desto zufriedener wären die Einzelnen. Freundlichkeit kann Zorn besänftigen, uneigennützige Hilfe bereitet selbst dem Helfenden Freude und Höflichkeit „ist eine Art Hexerei, welche die Gunst Aller erobert“. (Baltasar Gracián)

Aber natürlich, ganz so einfach ist es nicht. Oft haben wir es mit Menschen zu tun, die unhöflich und egoistisch oder sogar feindlich gesinnt sind. Zwar wird kaum jemand behaupten, man solle sich deswegen wie ein Rüpel benehmen, aber wer die Maxime beherzigt, gilt oft als ein bisschen naiv, als jemand, der leicht übertölpelt werden kann. Ist nicht der Freundliche und Hilfsbereite tatsächlich oft der Dumme, weil er „übers Ohr gehauen“, also ausgenutzt wird?

Grenzen der Hilfsbereitschaft

Die Gefahr besteht, insbesondere für jene von freundlichem oder warmherzigem Gemüt, denen es schwerfällt Nein zu sagen. Um ihr zu entgehen, sollten sie sich über Folgendes klar werden: Zur Hilfe bereit zu sein, bedeutet nicht, für andere die Arbeit zu tun, die diese selbst erledigen können und sollen, sondern tatsächlich Bedürftigen behilflich zu sein. Hilfsbereitschaft heißt nicht, anderen Anstrengungen zu ersparen, die jene selbst aufbringen können. Doch selbst eingedenk dieser Klarstellung kann Hilfsbereitschaft ausgenutzt werden, indem zum Beispiel Hilfsbedürftigkeit vorgetäuscht wird.

Auch beruht Hilfsbereitschaft bis zu einem gewissen Grade auf Gegenseitigkeit. Stets das Geschirr der Kollegen mit abzuwaschen, die selbst nie abwaschen, hat wenig damit zu tun, es sei denn, von deren Seite findet eine Kompensation an anderer Stelle statt. Für die Chefin, die sich durch Aufmerksamkeit, Einfühlung und Einsatz für ihre Kollegen auszeichnet, vielleicht auch mal das gesamte Team auf eigene Kosten zum Essen einlädt, wäscht man gern mit ab. Wenn die Mitschülerin, der ich bei der Deutsch-Aufgabe geholfen habe, mir bei der Lösung der Mathematik-Aufgaben nicht beistehen will, muss ich ihr beim nächsten Mal, wenn sie mich um Unterstützung fragt, nicht mehr behilflich sein.

Etwas anders verhält es sich mit Freundlichkeit und Höflichkeit. Was ist mit dem Muffel, der nie von sich aus grüßt, oder mit der missmutigen Verkäuferin, die mit der Kollegin redet, während ich als Kunde vor ihr stehe? Soll ich mich darüber empören? Dies fruchtet in der Regel wenig. Sollte ich solche Unfreundlichkeit „mit gleicher Münze heimzahlen“? Damit verschärft man die Situation meistens nur und tut sich selbst keinen Gefallen damit.

Freundlich und höflich bleiben

Es bleiben zwei Möglichkeiten: Man findet sich entweder ab und erträgt das Gebaren kommentarlos. Man bekämpft den innerlich aufsteigenden Ärger, indem man selbst ausgesucht, aber nicht übertrieben, freundlich und höflich bleibt. Dem Miesepeter hält man ein unüberhörbares „Guten Morgen!“ entgegen, der Verkäuferin ein „Ich möchte bitte etwas bestellen.“ Oder aber man meidet die Unhöflichen, indem man das Feld räumt: Man kauft eben nichts ein, oder man verlässt das Restaurant, in dem man vom Kellner ignoriert wird.

Doch soll man sich alles bieten, soll man sich gar beschimpfen lassen? Sollen wir uns gegen Unverschämtheit nicht zur Wehr setzen dürfen? „Wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“, lässt William Shakespeare im „Kaufmann von Venedig“ fragen. Wenn ein Kollege mich bei meinem Vorgesetzten oder gegenüber Journalisten verleumdet – soll ich ihm gegenüber freundlich bleiben? Wenn man mich warten lässt, mein Antrag nicht bearbeitet wird, eine Antwort zurückbehält, und dies alles allein um Macht zu demonstrieren, soll ich freundlich bleiben? Soll ich freundlich bleiben, wenn Nutzer mich über Twitter diffamieren? Ist es nicht schädlicher, den Ärger aus Freundlichkeit „in sich hineinzufressen“?

Dies alles sind gleichermaßen nachvollziehbare wie berechtigte Einwände. Manchmal muss man wohl zu rabiaten Methoden greifen, um dem Grobian Grenzen zu setzen. Und nicht gegen jedermann muss man in derselben Weise höflich sein. Unverschämtheit mit Unhöflichkeit zu vergelten, kann uns kurzfristig auch mit Genugtuung erfüllen, „Rache ist süß.“

Grundsätzlich jedoch sollte man sich mit jenen nicht gemein machen, die die Sprache des guten Benehmens nicht verstehen. Die eigene Seele kann daran Schaden, der innere Frieden gestört werden. Und wenn der Konflikt durch die eigene Reaktion eskaliert, ist wenig gewonnen. Dagegen könnte Freundlichkeit den Unhöflichen besänftigen.

Fazit

Gegenüber dem Grobian freundlich und höflich zu bleiben ist schwieriger als ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, doch gerade deshalb wächst du daran. Nicht zuletzt stärkt es deine Würde und Selbstachtung. Versuche Grenzen zu setzen, ohne selbst unhöflich zu sein. Aber mache dich dabei nicht zum Trottel. Erwehre dich deiner Haut, wenn es Not tut, doch ohne Zorn und mit Stil. Meide, wo immer es geht, den Umgang mit Flegeln. Das Sicherste ist, sich von ihnen entfernt zu halten und nicht mit ihnen aneinander zu geraten.

Über Selbstbeherrschung und eine feste Gründung

das schwere ist die wurzel des leichten
die ruhe ist herr der erregung. (…)
den boden unter den füßen verliert der leichtnehmende
die herrschaft verliert der erregte.*

The heavy is the root of the light,
tranquility is the lord of agitation. (…)
If you regard things too lightly, then you lose the basic;
if you’re agitated, you lose the “lord”.**

Laudse/Lao-Tzu, Daudedsching/Te-Tao Ching

Was ist “das Schwere”? Was könnte “das Leichte” sein, das in ihm wurzelt oder wurzeln soll? Welche Dinge soll man nicht leichtfertig behandeln?
Als “leicht”, oberflächlich und haltlos könnte man das alltägliche menschliche Tun im Allgemeinen und die “Erregung”, also übertriebene Gefühle, im Besonderen verstehen. Wie das Leichte einer Verwurzelung bedarf, so bedarf Erregung der Beruhigung.

Im tiefergehenden Sinne bedürfen das menschliche Tun und insbesondere Gefühle einer Erdung durch ein “Schweres”. “Schwer” im Sinne von Halt gebend ist das Dau (auch Dao oder Tao), das grundlegende Prinzip im Daoismus, das auch als “Pfad” (Richtlinie) zu einer harmonischen menschlichen Existenz gilt. Es muss der “Lord” sein, muss das Tun leiten, denn ohne feste Gründung, ohne Bodenhaftung, ohne Verwurzelung in festen Grundsätzen sind alle menschlichen Aktivitäten letzlich auf Sand gebaut. “Flachwurzler” fallen einem Sturm als erste zum Opfer. Wer den Affekten freien Lauf lässt, verliert die Selbstbeherrschung, und damit auch seine Macht über andere.

Diese Überlegungen sind vertraut und sprechen für sich. Aber sind sie auch “empirisch”, das heißt: in Lebenserfahrung, begründet, oder sind sie nur Wunschdenken eines introvertierten Philosophen? Sind die Stillen, Ernsthaften und Selbstbeherrschten, die das Leben “schwer” nehmen, wirklich mächtiger? Liegt die Macht nicht doch eher bei den Lauten und Leidenschaftlichen, die sich über Bedenken hinwegsetzen und mit ihrer Energie Berge versetzen? Was ist so gefährlich daran, auch einmal “Dampf abzulassen”? Gelten diejenigen, die nie zornig sind, nicht als Idioten, wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik sagt?

Auch der Weise empfindet Zorn, aber er kann ihn beherrschen.
Selbstbeherrschung ist keine Garantie für Macht über andere.
Sich selbst beherrschen ist besser, als andere zu beherrschen.

Achten Sie heute einmal besonders darauf, gelassen zu bleiben und sich zu beherrschen.
Schreiben Sie Ihre Regeln und Prinzipien der Lebensführung auf und denken Sie darüber nach.

*in der Übersetzung von Ernst Schwarz, Leipzig 1970

**in der Übersetzung von Robert G. Henricks, Lao-Tzu Te-Tao Ching: A New Translation Based on the Recently Discovered Ma-wang-tui Texts, N.Y. 1989

Lichtenberg: Seinen Neigungen entgegenhandeln

Seinen Neigungen schlechtweg entgegen zu handeln führt gewiß am Ende zu etwas besserem

Aphorismenbücher, J 596

Warum?

Wir neigen zu dem was uns Lust bereitet und meiden das, was Unlust hervorruft. Das ist „menschlich“. Doch je öfter wir diesen Neigungen nachgeben, desto mehr verlieren wir an Festigkeit und Widerstandskraft gegenüber den Forderungen und Zumutungen des Lebens und der Natur. Damit es uns dauerhaft gut geht, müssen wir unsere Neigungen disziplinieren und lernen, kurzfristig Unlust zu ertragen.

Und umso mehr, wenn wir uns bessern wollen. Der bequeme Weg ist langfristig nicht der für uns beste Weg. Der für uns beste Weg ist derjenige, der uns voranschreiten, der uns wachsen lässt, der uns unserer Vervollkommnung näher bringt.

Wachsen bedeutet Widerstände zu überwinden, die größtenteils in uns selbst liegen. Die eigene Bequemlichkeit ist der größte Widerstand. Wir stehen uns und unserer Besserung selbst im Wege. Deshalb führt jede Selbstüberwindung „zu etwas Besserem“.

Einige Beispiele:

Fasten statt schlemmen.
Gym statt Couch
Warten statt losstürmen
Zuhören statt reden
Nein-Sagen statt zustimmen
Fokussieren statt Zerstreuen
Unterschiede statt Ähnlichkeiten sehen
Wichtiges sofort erledigen statt aufzuschieben
Lesen oder Schreiben statt E-Mails checken oder Social Media-Daddeln

Achten Sie heute einmal besonders auf Ihre Neigungen und geben Sie ihnen nicht nach.

Gracian: Wissen und Tapferkeit bauen wahre Größe auf

Wissenschaft und Tapferkeit bauen die Größe auf. Sie machen unsterblich; weil sie es sind. Jeder ist so viel, als er weiß, und der Weise vermag Alles. Ein Mensch ohne Kenntnisse; eine Welt im Finstern. Einsicht und Kraft; Augen und Hände. Ohne Muth ist das Wissen unfruchtbar.

Baltasar Gracián, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, 4

Nicht Geld, nicht politische Macht, nicht Auflagenzahlen, nicht Heere, nicht die Zahl der Talkshow-Auftritte, nicht Nobelpreise noch andere Titel, verbürgen wahre Größe. Echte Bildung ist, was nachhaltig zählt. Doch nur, wenn sie sich mit Tapferkeit verbindet, kann Einsicht Wirkung entfalten.

Welcher Art Wirkung, hängt von der Verbindung mit weiteren Tugenden ab: Bescheidenheit, Gerechtigkeit, Güte und Selbstbeherrschung. Aber auch von der Verbindung mit Fehlern: Eitelkeit, Selbstüberschätzung, Machtstreben.

Unsterblicher Nachruhm winkt Ersterem, ewige Schmach und Vergessen Letzterem.

Wer kennt für diese Wahrheit historische oder aktuelle Beispiele?

Aurel über Notwendigkeit und Zweck von Selbstreflexion

Nichts ist jämmerlicher als ein Mensch, der alles ergründen will, der die Tiefen der Erde, wie jener Dichter sagt, durchforscht und, was in der Seele seines Nebenmenschen vorgeht, zu erraten sucht, ohne zu bedenken, daß er sich genügen lassen sollte, mit dem Genius, den er in sich hat, zu verkehren und diesem aufrichtig zu dienen. Dieser Dienst aber besteht darin, ihn vor jeder Leidenschaft, Eitelkeit und Unzufriedenheit mit dem Tun der Götter und Menschen zu bewahren.

Selbstbetrachtungen II, 13

Der Dialog mit sich selbst soll von größerer Bedeutung sein als jedes Erkenntnisinteresse? Der Mensch soll sich gar mit Ersterem begnügen, alles andere sei jämmerlich?

Das kann man mit Fug und Recht als eine überzogende Zuspitzung ansehen, denn wir würden wohl noch in Höhlen leben ohne diejenigen, die leidenschaftlicher Entdeckerdrang und Unzufriedenheit mit der Lebenssituation nach draußen trieben. Zudem schließen sich Wissensdurst auf die Welt und Selbstprüfung nicht aus.

Doch was ist der Forscher, der viel über die Welt und über seine Mitmenschen wissen will und weiß, aber sich selbst nicht beherrscht? Dessen Forscherdrang im Dienste seines Lebens nach Ruhm und Anerkennung steht? Die Wissenschaftsgeschichte ist reich an Beispielen unmoralischen Verhaltens großer Forscher und Entdecker.

So wird man festhalten können: Nicht derjenige ist elend, der alles außerhalb seiner Selbst ergründen will, wohl aber derjenige, der darüber die Arbeit am eigenen Charakter vernachlässigt oder vergisst.