Erst das Wichtigste, dann alles andere

… ein großer Teil des Lebens entgleitet den Menschen, wenn sie Schlechtes tun, der größte, wenn sie nichts tun, das ganze Leben, wenn sie Nebensächliches tun.

Seneca, Briefe an Lucilius 1, 1

Dies ist eine der wichtigsten Lebensregeln überhaupt: Erledige zunächst alle wesentlichen Pflichten und kümmere dich dann um den Rest.

Doch was sind die wichtigsten Aufgaben und wie erkennt man sie? Darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen. Nur so viel sei hier gesagt: Natürlich muss zunächst die Erfüllung der existenziellen Grundbedürfnisse – nicht zu hungern, nicht zu dürsten und nicht zu frieren – gewährleistet werden. Das danach Wichtigste hängt von unseren persönlichen Lebenszielen ab, davon, welchen Sinn man seinem Leben gibt, wofür man auf der Welt zu sein glaubt. Für den einen ist es Gesundheit, für den anderen sind es gelungene Beziehungen. Einer strebt nach materiellem Wohlstand, ein Zweiter nach Zufriedenheit und Seelenruhe, ein Dritter nach Ruhm und Ehre – „das Wichtigste“ ist von Mensch zu Mensch verschieden. „Alles andere“ sind sämtliche Aktivitäten, die nicht unmittelbar oder indirekt mit den eigenen Lebenszielen in Verbindung stehen.

Die Maxime befolgen kann nur, wer sich über seine Lebensziele im Klaren ist. Viele Menschen wissen es nicht. Gehörst du auch dazu? Dann finde zunächst heraus, was dir wirklich wichtig ist.

Nicht nur antike Philosophen, auch erfolgreiche Unternehmer und Motivationstrainer halten es für bedeutsam, dem Wichtigsten Vorrang vor allem anderen einzuräumen. In den Worten des Investors Charlie Munger: „I just concentrate on the priority, and do nothing much else.“ Doch warum ist es so wichtig, der Hauptsache seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken?

Unsere Ressourcen sind begrenzt

Das betrifft zum einen unsere Lebenszeit, sie ist beschränkt. Aber auch physische und mentale Energie erschöpft sich. Wenn wir über unendliche Zeit und unlimitierte Ressourcen verfügten, fiele es nicht ins Gewicht, wenn wir diese „nach dem Gießkannenprinzip“ verteilten oder einen Großteil davon vertrödeln würden.

Hinzu kommt: Wir müssen Zeit und Ressourcen sowohl für unsere existenziellen Bedürfnisse als auch für unsere Verpflichtungen gegenüber Mitmenschen aufwenden, die uns für die Verwirklichung unserer Lebensziele nicht zur Verfügung stehen.

Schließlich erfordern viele unserer Lebensziele unsere ganze Kraft, zum Beispiel wenn wir anstreben, der oder die Beste auf einem speziellen Gebiet zu sein.

Doch wenn wir uns nun angesichts der unendlichen Möglichkeiten nicht entscheiden können oder wollen, welcher wir uns bevorzugt widmen, was dann?

Ein russisches Sprichwort sagt dazu: „Wer zwei Hasen hinterherjagt, wird keinen von beiden fangen.“ Das heißt: Wir stehen buchstäblich mit leeren Händen da. Wir haben uns umsonst angestrengt, haben unsere begrenzten Ressourcen ergebnislos eingesetzt. Unzufriedenheit stellt sich ein. Dagegen steigen die Chancen, sein Hauptziel zu erreichen, und mindestens einen Hasen zu fangen, rapide, wenn wir uns konzentrieren. So sehr das einleuchtet, so schwer fällt es uns, die Lebensregel zu praktizieren, warum?

Hindernisse

Vielleicht macht es uns gelassener zu wissen, dass auch herausragende und erfolgreiche Persönlichkeiten ihre liebe Müh‘ und Not eingestanden. So soll Goethe geklagt haben, gegenüber der Fähigkeit, die Arbeit eines einzigen Tages sinnvoll zu ordnen, sei alles andere im Leben ein Kinderspiel. Prioritäten setzen klingt einfach, ist aber schwer zu machen.

Die erste und größte Hürde: Wir sind uns über das, was uns am Wichtigsten ist, nicht im Klaren. Wir zu wollen zu viele Dinge gleichzeitig, zu viele Möglichkeiten stehen uns offen, aus denen wir auswählen müssen.

Zweitens: Es ist leicht zu träumen, aber schwer seine Ziele zu erreichen. Denn es kostet uns nicht selten Selbstdisziplin und Selbstüberwindung. Wir können uns nicht verbessern und weiterentwickeln, ohne uns anzustrengen, auch wenn uns dies bei den Dingen, für die wir „brennen“ leichter fallen mag. Wir fliehen vor dieser Anstrengung in Zerstreuung, Ablenkung und Nebensächliches: Serien, soziale Medien, Computerspiele …

Drittens: Wir leben nicht allein auf der Welt, sondern in Gemeinschaften und in sozialen Beziehungen. Wir haben damit Verpflichtungen gegenüber unserer Familie, unseren Freunden oder unseren Kollegen. Es kommt vor, dass diese mit dem, was uns persönlich gerade am Wichtigsten ist, kollidieren. Nur wenn es für uns das Wichtigste ist, dass es anderen gut geht, ist das kein Problem, doch das ist selten.

Wenn wir herausgefunden haben, was uns wirklich wichtig ist, wie gelingt es uns dann, dem Vorrang vor allem anderen einzuräumen?

Wenn Du fokussierter sein willst, sei fokussierter

Das bedeutet: Es gibt kein Geheimrezept dafür, wie Du am besten Prioritäten setzt, Du musst es einfach tun.

Du willst Deine Fitness verbessern? Beginne den Tag mit Sport.
Du möchtest gelassener werden? Meditiere oder gehe spazieren.
Du wünscht Dir, ein besserer Autor zu sein? Schreibe, schreibe, schreibe.
Du strebst an, auf Deinem Instrument schwierigere Stücke zu spielen? Starte damit.
Es ist Dein Ziel, auf einem Gebiet zum Experten zu werden? Lese alles darüber, probiere aus, fange jeden Tag damit an.

Um ein Wort über mich selbst zu sagen: Ich schreibe jeden Morgen meine „Pflicht des Tages“ in mein Morgenjournal und nehme diese als erstes sofort in Angriff. Die zwei bis drei anderen Dinge, die mir sehr wichtig sind, versuche ich anzuhängen. Nein, es gelingt nicht immer. Ich bin kein Roboter, der eine To-Do-Liste abarbeitet. Es fällt mir zwar schwer, Zufälligkeit zu ertragen und spontan zu sein, aber ich weiß: Manchmal kann es „das Wichtigste“ sein, vom Pfad abzuweichen. Manchmal ist es wirklich wichtig, nichts zu tun.

Trotzdem, in der Regel versuche ich, immer wieder innezuhalten und mich zu fragen, was im Weiteren das Wichtigste ist. Wenn ich auf diese Weise durch den Tag gehe, bleibt am Ende kaum Spielraum für die „Motten der kostbaren Zeit“ (Baltasar Gracián). Außerdem macht es mich gelassener und zufriedener. Ich weiß: Egal, was an diesem Tag noch kommen mag – Das Wichtigste habe ich schon erledigt.

Über Selbstbeherrschung und eine feste Gründung

das schwere ist die wurzel des leichten
die ruhe ist herr der erregung. (…)
den boden unter den füßen verliert der leichtnehmende
die herrschaft verliert der erregte.*

The heavy is the root of the light,
tranquility is the lord of agitation. (…)
If you regard things too lightly, then you lose the basic;
if you’re agitated, you lose the “lord”.**

Laudse/Lao-Tzu, Daudedsching/Te-Tao Ching

Was ist “das Schwere”? Was könnte “das Leichte” sein, das in ihm wurzelt oder wurzeln soll? Welche Dinge soll man nicht leichtfertig behandeln?
Als “leicht”, oberflächlich und haltlos könnte man das alltägliche menschliche Tun im Allgemeinen und die “Erregung”, also übertriebene Gefühle, im Besonderen verstehen. Wie das Leichte einer Verwurzelung bedarf, so bedarf Erregung der Beruhigung.

Im tiefergehenden Sinne bedürfen das menschliche Tun und insbesondere Gefühle einer Erdung durch ein “Schweres”. “Schwer” im Sinne von Halt gebend ist das Dau (auch Dao oder Tao), das grundlegende Prinzip im Daoismus, das auch als “Pfad” (Richtlinie) zu einer harmonischen menschlichen Existenz gilt. Es muss der “Lord” sein, muss das Tun leiten, denn ohne feste Gründung, ohne Bodenhaftung, ohne Verwurzelung in festen Grundsätzen sind alle menschlichen Aktivitäten letzlich auf Sand gebaut. “Flachwurzler” fallen einem Sturm als erste zum Opfer. Wer den Affekten freien Lauf lässt, verliert die Selbstbeherrschung, und damit auch seine Macht über andere.

Diese Überlegungen sind vertraut und sprechen für sich. Aber sind sie auch “empirisch”, das heißt: in Lebenserfahrung, begründet, oder sind sie nur Wunschdenken eines introvertierten Philosophen? Sind die Stillen, Ernsthaften und Selbstbeherrschten, die das Leben “schwer” nehmen, wirklich mächtiger? Liegt die Macht nicht doch eher bei den Lauten und Leidenschaftlichen, die sich über Bedenken hinwegsetzen und mit ihrer Energie Berge versetzen? Was ist so gefährlich daran, auch einmal “Dampf abzulassen”? Gelten diejenigen, die nie zornig sind, nicht als Idioten, wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik sagt?

Auch der Weise empfindet Zorn, aber er kann ihn beherrschen.
Selbstbeherrschung ist keine Garantie für Macht über andere.
Sich selbst beherrschen ist besser, als andere zu beherrschen.

Achten Sie heute einmal besonders darauf, gelassen zu bleiben und sich zu beherrschen.
Schreiben Sie Ihre Regeln und Prinzipien der Lebensführung auf und denken Sie darüber nach.

*in der Übersetzung von Ernst Schwarz, Leipzig 1970

**in der Übersetzung von Robert G. Henricks, Lao-Tzu Te-Tao Ching: A New Translation Based on the Recently Discovered Ma-wang-tui Texts, N.Y. 1989

Lichtenberg: Seinen Neigungen entgegenhandeln

Seinen Neigungen schlechtweg entgegen zu handeln führt gewiß am Ende zu etwas besserem

Aphorismenbücher, J 596

Warum?

Wir neigen zu dem was uns Lust bereitet und meiden das, was Unlust hervorruft. Das ist „menschlich“. Doch je öfter wir diesen Neigungen nachgeben, desto mehr verlieren wir an Festigkeit und Widerstandskraft gegenüber den Forderungen und Zumutungen des Lebens und der Natur. Damit es uns dauerhaft gut geht, müssen wir unsere Neigungen disziplinieren und lernen, kurzfristig Unlust zu ertragen.

Und umso mehr, wenn wir uns bessern wollen. Der bequeme Weg ist langfristig nicht der für uns beste Weg. Der für uns beste Weg ist derjenige, der uns voranschreiten, der uns wachsen lässt, der uns unserer Vervollkommnung näher bringt.

Wachsen bedeutet Widerstände zu überwinden, die größtenteils in uns selbst liegen. Die eigene Bequemlichkeit ist der größte Widerstand. Wir stehen uns und unserer Besserung selbst im Wege. Deshalb führt jede Selbstüberwindung „zu etwas Besserem“.

Einige Beispiele:

Fasten statt schlemmen.
Gym statt Couch
Warten statt losstürmen
Zuhören statt reden
Nein-Sagen statt zustimmen
Fokussieren statt Zerstreuen
Unterschiede statt Ähnlichkeiten sehen
Wichtiges sofort erledigen statt aufzuschieben
Lesen oder Schreiben statt E-Mails checken oder Social Media-Daddeln

Achten Sie heute einmal besonders auf Ihre Neigungen und geben Sie ihnen nicht nach.

Pampel: Lebenskunst-Formel (Art Of Living Formula)

identifying right & essential elements, preconditions and basics of being lucky (=wisdom)
+ building principles and habits to practice (=maxims)
+ obeying with discipline


= art of living

Die Kunst des Lebens besteht zusammengefasst darin,
1. die wesentlichen Elemente, Voraussetzungen und Grundlagen eines glücklichen Lebens zu erkennen. Diese Einsicht nennt man Weisheit.
2. besteht die Kunst darin, diese Einsichten in praktische Lebensregeln zu übersetzen. Diese Grundsätze der Lebensführung nennt man Maximen.
3. sind diese Regeln diszipliniert und umsichtig zu befolgen. Das ist mehr harte Arbeit als Kunst.

Lebenskunst ist also sowohl „theoretische“ Erkenntnis als auch „praktische“ Methode.

 

Gracian: Es gibt Regeln für das Glück

Die Kunst Glück zu haben. Es giebt Regeln für das Glück: denn für den Klugen ist nicht alles Zufall. Die Bemühung kann dem Glücke nachhelfen.
Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, 21
übersetzt von Artur Schopenhauer

The Art of being Lucky. There are rules of luck: it is not all chance with the wise: it can be assisted by care.
The Art of Worldly Wisdom, by Balthasar Gracian, 21
translated by Joseph Jacobs

Lebenskunst ist zuallererst die Kunst, glücklich zu sein. Ist beides vielleicht gar identisch? Glücklichsein steht zweifellos an der Spitze der Lebensziele, ist für viele der Sinn des Lebens. Wie nur ein sinnvolles Leben ein glückliches Leben sein kann, so kann nur ein glückliches Leben sinnvoll sein.

Doch geht es im Leben nur darum, selbst glücklich zu sein? Und was macht überhaupt ein glückliches Leben aus? Ist das nicht je von Mensch zu Mensch sehr verschieden? Nach Epikur besteht Glück vor allem in Schmerzfreiheit und Lustempfinden. Insofern scheint der Weg zum Glücklichsein recht einfach: Strebe danach, was dich schmerzfrei macht und dir lustvolle Gefühle beschert – meide, was dir Schmerzen und Unlust bereitet. Ganz so einfach ist es dann zwar doch nicht, aber das soll hier nicht weiter erörtert werden.

Gracian meint: Glück ist für den Weisen, für den Einsichtigen nicht purer Zufall. Wenn er sich um die Einhaltung gewisser Regeln umsichtig bemüht, kann er das Glücklichsein befördern. Insofern ist jeder seines eigenen Glückes Schmied.